„Verdammt!“
Wütend strich sich Laurie eine ihrer schwarzen
Haarsträhnen hinter das Ohr. Wieder versuchte sie, ihren
Koffer in Bewegung zu setzen. Und wieder gelang es ihr nicht. Wieso
ließ sich das Teil nicht bewegen? Gut, er war schwer, bis
oben hin bepackt. Aber immerhin hatte sie einen etwas längeren
Aufenthalt in Sydney hinter sich. Ihre Kleidungsstücke konnten
doch alle nicht so verteufelt schwer sein, das sich der Koffer weder
vor, noch zurückst schieben ließ. Er stand noch
immer, absolut bewegungslos, an jenen Punkt, inmitten des
Flughafengebäudes, wo ihn der Taxifahrer hingestellt hatte. Er
war so freundlich gewesen, ihr den Koffer hinein zu tragen, als sie ihn
höflich darum gebeten hatte. Dafür hatte er auch ein
sehr großzügiges Trinkgeld erhalten.
Vielleicht hätte sie ihn bitten sollen, ihr den Koffer bis zum
Check-In Schalter zu tragen. Doch jetzt war es für diese
Überlegung auch zu spät. Der Taxifahrer war schon
längst mit einem anderen Fahrgast unterwegs.
Natürlich gab es an jedem Flughafen diese kleinen
Wägelchen für das Gepäck. Aber sie konnte
ihren Koffer unmöglich unbeaufsichtigt stehen lassen, um sich
einen solchen zu besorgen. Erneut stemmte sich Laurie gegen den Koffer,
um ihn vorwärts zu schieben, in Richtung der Schalter, damit
sie endlich einchecken und ihr Ticket abholen konnte. Sie wollte nur
noch weg, fort von Sydney, raus aus Australien, zurück in ihr
gewohntes Leben in Los Angeles, um die Enttäuschung, die sie
hier erlitten hatte, zu vergessen. Nein, sie wollte nicht mehr
darüber nachdenken, was man ihr gesagt hatte. Es war ein
grauenhafter Termin gewesen.
Soviel hatte sie sich von diesem Termin versprochen. Sie hatte wirklich
geglaubt, das sie gut wäre, als Schriftstellerin, das der
Verlag, mit dem sie sich getroffen hatte, ihr erklären
würde, das man ihren Roman veröffentlichen
würde. Stattdessen hatte sie nur eine negative Kritik
erhalten. Hohn und Spott ... das hatte sie bei diesem Termin bekommen,
aber nicht die erhoffte Chance, ihr Buch den Menschen näher
bringen zu können. Ihr Werk war schlecht, das hatte man ihr
mitgeteilt. Und das tat wirklich weh. Ihre Hoffnung war wie eine
Seifenblase zerplatzt. Brutal war sie zerstört worden. Tief
verletzt kehrte sie nach Hause zurück.
Doch momentan war ihr Buch, ihre verletzten Gefühle, ihr
kleinstes Problem. Irgendwie musste sie es schaffen, ihren Koffer in
Bewegung zu setzen. Verzweifelt blickte sie sich um. Kam eigentlich
niemand auf die Idee ihr zu helfen? Es sah doch jeder, wie sie sich
abmühte. Warum wunderte sie das überhaupt? Die
Menschen kannten heutzutage keine Menschlichkeit mehr.
Hilfsbereitschaft war für sie ein Fremdwort. Achtlos
strömten die Fluggäste an ihr vorbei, beachteten ihr
Problem nicht weiter, und wenn doch, schüttelten sie nur den
Kopf, wenn sie an ihr vorüber gingen. Aber auf die Idee, ihr
anzubieten, ihr mit dem schweren Koffer zu helfen, kam niemand. Die
Menschen dachten echt nur an sich selbst.
Also musste sie sich die Hilfe wohl auch selbst organisieren. Sie
würde einfach irgend jemanden fragen, ob er so nett
wäre, und ihr behilflich sein konnte. Suchend blickte sie sich
um. Ihre Augen wanderten über die vielen Menschen, die rechts
und links von ihr durch das Flughafengebäude
strömten. Jedem einzelnen dieser Leute stand die Hektik ins
Gesicht geschrieben. Entweder kamen sie gerade von einem Flug oder
waren dabei einzuchecken. Irgend jemand von ihnen würde doch
zwei Minuten Zeit haben, um ihr eine helfende Hand anzubieten. Laurie
war schon im Begriff, einen Mann mittleren Alters zu fragen, ob er ihr
kurz behilflich sein konnte, als sie in ihrer Bewegung inne hielt. Denn
sie sah
ihn.
Überraschend war er in ihr Blickfeld gerückt, ein
blonder Mann mit schweren Cowboystiefeln. Um seinen Po schmiegte sich
eine enge, dunkelblaue Jeans. Die Ärmel seines schwarzen
Hemdes hatte er hochgekrempelt. Die Haut, die zum Vorschein kam, war
sonnengebräunt, passte perfekt zu den muskulösen
Armen, die man erkennen konnte. Er hatte nur einen Rucksack bei sich,
den er sich über eine Schulter geworfen hatte. Mit einem
lässigen Gang, er hielt sich wohl selbst für
äußerst cool, näherte er sich ihr.
Anscheinend war er ebenfalls auf den Weg zum Check-In Schalter. Das war
doch der perfekte Kandidat, um sie aus ihrer Notlage zu befreien. Nach
ihrer schweren Enttäuschung, die sie hier inmitten von Sydney
erlitten hatte, wäre ein wenig Aufmerksamkeit von einem sehr
attraktiven Mann genau das, was sie wieder aufbauen könnte.
Laurie strich sich eine Strähne ihres schulterlangen,
schwarzen Haares zurück. Mit wenigen Handgriffen brachte sie
ihre Kleidung in Ordnung, rückte das weiße Oberteil
und den langen, roten Rock zurecht. Ein kleines Lächeln glitt
über ihre Lippen. Der Blick des Fremden fiel auf sie.
Für einen Moment stockte Laurie der Atem. Seine Augen waren
absolut hinreißend, da war etwas in seinem Blick, der sie
geradezu lockte, seine Geheimnisse erfahren zu wollen. Gebannt tauschte
sie einen intensiven Blick mit ihm aus. Seine Augen glitten abtastend
über ihren Körper. Er verzog die Lippen zu einen
feinen, kaum zu sehenden Lächeln.
„Entschuldige, du siehst wie ein starker Mann aus.
Könntest du einer schwachen Frau vielleicht behilflich sein
und ihren Koffer zum Check-In tragen? Das Teil lässt sich von
mir absolut nicht bewegen.“ Bittend sah sie ihn an. Sie
beobachtete, wie er sie erneut von oben bis unten musterte. Mit einer
lässigen Handbewegung strich er sich durch das Haar. Gott,
hatte der Kerl sonnengebräunte, muskulöse Arme. Das
gehörte ja verboten. Ob er viel trainierte? Das musste er wohl
tun, wenn er diesen athletischen Körper behalten wollte. Und
athletisch war er durch und durch.
„Schlepp deinen Koffer doch selbst! Das nächste Mal
solltest du vielleicht nicht soviel einkaufen, dann hast du auch keine
Probleme damit, dein Gepäck zum Check-In zu
bekommen“, knurrte er unfreundlich. Fassungslos starrte
Laurie ihn an. Hatte sie gerade richtig gehört? „Das
Leben bestraft die Dummen, Süße“, warf er
über die Schulter und ging davon. Laurie konnte nicht glauben,
was sie soeben erlebte. Er ließ sie einfach stehen? Nicht nur
das, er wagte es auch noch, ihr etwas vorzuwerfen, was gar nicht so
war? Wie konnte er sich einbilden, einfach ein Urteil über sie
zu fällen? Er hatte doch keine Ahnung, weshalb der Koffer so
schwer war. Er kannte sie doch gar nicht. Sie war eine Fremde
für ihn.
„Arroganter Mistkerl“, rief sie ihm nach, obwohl
sie bezweifelte, das er es noch hörte, da er längst
in der Menschenmenge verschwunden war.
Alle gutaussehenden
Männer sind egoistische Bastarde, dachte sie knapp.
Frustriert
stöhnte sie auf. So etwas musste natürlich wieder ihr
passieren. Das war
so typisch. Als hätte
sie nicht schon
genügend schlechte Erfahrungen gemacht. Und nach der
Enttäuschung mit ihrem Roman kam nun auch noch ein
selbstverliebter Kerl hinzu, der wohl echt glaubte, er wäre
die Antwort auf jede Frage dieser Welt. Verärgert strich sie
sich ein paar Haarsträhnen zurück, die ihr ins
Gesicht fielen. Ja, etwas Aufmerksamkeit wäre gut gewesen. Es
hätte sie aufgebaut. Stattdessen hatte er sie nur noch weiter
runter gezogen.
„Hey, kann ich dir helfen?“ sprach auf einmal eine
angenehme Stimme hinter ihr. Laurie wandte sich um und entdeckte einen
übergewichtigen Mann, der sie freundlich ansah. Ein kleines
Lächeln glitt über ihre Lippen. Anscheinend meinte es
da doch jemand gut mir ihr. „Oh ja, das wäre echt
nett von dir. Der verdammte Koffer ist leider viel zu schwer
für mich. Und ich kann ihn schlecht mitten hier am Flughafen
stehen lassen, um mir einen dieser Gepäckwagen zu
besorgen.“ „Stimmt. Dein Gepäck
wäre dann wohl nicht mehr da“, lachte er sympathisch
und hob ihren Koffer auf seinen kleinen Gepäckwagen, den er
vor sich her schob.
„Ich bin Laurie“, stellte sie sich vor.
„Hurley“, erwiderte er. Laurie schwang sich ihre
Handtasche um die Schulter und blieb an Hurleys Seite, als sie
gemeinsam zum Check-In gingen. Es gab also doch noch hilfsbereite
Menschen auf dieser Welt. Damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet.
Zu oft schon hatte sie dunkle Seite der menschlichen Seele
kennengelernt. Sie wusste um die tiefen Abgründe, die es in
den Menschen gab, wusste um deren Grausamkeit. Leicht
schüttelte sie den Kopf. Nein, sie wollte sich nicht erinnern,
nicht jetzt. Eines Tages würde sie ihrer Vergangenheit
gegenüber stehen. Sie würde ihn finden, jenen Mann,
der ihr Leben zerstört hatte, der ihr alles genommen hatte,
was ihr lieb und teuer gewesen war. Vielleicht war es schon auf diesen
einen Flug so weit.
Eigentlich hätte sie schon vor drei Tagen nach Hause fliegen
sollen, doch dann hatte sie durch ihren Privatdetektiv in Los Angeles
erfahren, das der Mörder ihrer Familie die
Oceanic Airlines,
Flug 815, von Sydney aus nahm. Also hatte sie kurzentschlossen
umgebucht. Sie wollte ihn sehen, wollte ihn zur Rede stellen, wollte,
das er sie ansah und wusste, wer sie war. Und ja, sie wollte ihre
Rache. Sie wollte, das er sein Leben verlor, das sie es war, die es
beendete. Sie wollte über ihn richten, so wie er einst
über ihre geliebten Eltern gerichtet hatte. Damals war es ihm
gelungen, vor dem Gesetz zu fliehen. Aber vor ihr konnte er nicht
fliehen. Eines Tages würde sie ihre Rache bekommen. Sein Leben
gehörte ihr. Das Einzige, das Jacob Turner in seinem
erbärmlichen Leben noch tun durfte, war zu sterben. Das war
die einzige Gnade, die er von
ihr
bekommen würde.
Sawyer beobachtete die junge, schwarzhaarige Frau, die am Check-In
Schalter gerade ihr Ticket erhielt und überrascht feststellte,
das ihr Retter in der Not den selben Flug von Sydney nach Los Angeles
nehmen würde wie sie. Lächelnd lud sie das
Dickerchen
auf einen Kaffee ein. Aus sicherer Entfernung, Sawyer lehnte
lässig an einer Säule, während er darauf
wartete, das er endlich an Bord gehen konnte, ließ er sie
nicht aus den Augen. Süß war sie ja. Und verdammt
heiß obendrein. Ob sie sich dessen bewusst war? Tja, jetzt
bereute er es schon, das er ihr nicht geholfen hatte. Das
hätte ihm jedenfalls so viele Pluspunkte bei ihr eingebracht,
das er sein Ankommen in Los Angeles wohl sehr angenehm verlaufen
wäre.
Doch es war noch nichts verloren. Er konnte sich bei ihrer Ankunft in
Los Angeles, ja, er hatte mitbekommen, das sie im selben Flugzeug wie
er sitzen würde, noch immer artig bei ihr entschuldigen. Und
der Blick, mit dem sie ihn gemustert hatte, war eindeutig gewesen.
Offenbar gefiel er ihr. Gut, es hätte ihn überrascht,
wenn es anders gewesen wäre. Sawyer wusste um seine Wirkung
auf Frauen. Aber diese war anders. Irgendwie hatte er es im
Gespür. Da war etwas in ihren Augen gewesen, ein tiefer
Schatten, der kurz aufgeflackert war, der ihm erzählte, das
sie eine schwere Last mit sich herumtrug, etwas, das ihr auf der Seele
lag, das sie nicht los wurde.
Da war mehr gewesen als der starke Funke,
der vom ersten flüchtigen Blick an über gesprungen
war. Und sie hatte einen verdammt heißen Arsch, ein Po, der
regelrecht darauf wartete, von ihm berührt zu werden. Genau
das würde er auch tun. Er wollte seine Arme um sie schlingen,
sie küssen und berühren, mit seinem ganzen Sein
dafür sorgen, das sie glücklich war. Denn genau das
war sie nicht. Die Traurigkeit in ihren Augen hatte ihm das
erzählt. Im Flugzeug würde er schon eine
Möglichkeit erhalten, sie zu umschmeicheln, damit sie nicht
länger sauer auf ihn war. Genau das war sie nämlich,
sogar ziemlich. Die beiden nicht sehr schönen Worte, die sie
ihm nachgerufen hatte, waren ja nicht zu überhören
gewesen, auch nicht die Wut, die sich in ihre Stimme gelegt hatte.
Sawyer war felsenfest davon überzeugt, das sie seine
Entschuldigung annehmen würde. Nach der Landung würde
er sie zu einem Drink einladen und der Rest würde wie von
selbst geschehen. So hatte er wenigstens für die ersten Tage
in Los Angeles eine sicher schöne Bleibe mit einer
heißen und angenehmen Gesellschaft.
„Süße, du gehörst mir“,
flüsterte Sawyer und suchte eins der vielen Lokale auf, die
der Flughafen beherbergte, um sich noch kurz ein Bier zu
gönnen, bevor die Passagiere an Bord gehen konnten.
Wie recht Sawyer mit seinem
harmlosen Worte hatte, konnte er zu diesem
Zeitpunkt noch nicht ahnen. Denn das Schicksal hatte Sawyer und Laurie
auserwählt. Es hatte sie auserwählt, einander zu
gehören, mit Leib und Seele, mit ihren Herzen und ihrem ganzen
Sein. Es hatte sie durch ein starkes Band miteinander vereint, ein
Band, das niemals durchtrennt werden konnte. Ja, sie gehörten
zu dem jeweilig anderen. Auch wenn sie es bei dem ersten Blick, der
ausgetauscht worden war, noch nicht wussten.
Dieser eine Flug
sollte ihr beider Leben für immer
verändern, jenes von Sawyer, sowie auch das von Laurie ...
~ Ende ~