Bier her, Bier her...
Titel: Bier her, Bier
her...
"Dr. Jackson bitte zur Notaufnahme. Dr. Jackson zur Notaufnahme." Mit einem Seufzen griff sich Nathan Jackson den Kittel, den er vor ein paar Minuten in seinen Spind gehängt hatte. Es wäre ja auch zu schön gewesen, den letzten Abend seiner Krankheitsvertretung im Denver General mit nichts Schlimmeren hinter sich zu bringen als einem Rippenbruch, dem Abriss einer Achillessehne und einem Herzinfarkt, der sich als schwere Magenkrämpfe entpuppt hatte. Auf dem Gang kam ihm Tina entgegen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Nein, es war fast schon ein Grinsen. Also wohl keine Massenkarambolage oder ein Großbrand. Die Schwester wartete, bis er in den Kittel geschlüpft war und reichte ihm dann das Clipboard. "Zwei Minuten später und ich wäre hier raus gewesen." "Du hättest dich geärgert, wenn du das hier verpasst hättest, Nathan." Ihr Tonfall und die Tatsache, dass sie ihn nicht mit den Details des Notfalls überflutete, machte Nathan endgültig klar, dass es hier nicht um Leben und Tod ging. Er sah auf die Notizen und schüttelte den Kopf. "Das klingt ja nach einer Massenprügelei in 'nem Saloon." "Nicht schlecht, Doc. Eine richtig schöne Keilerei, auf die jeder Western stolz wäre." "Manche Zeitgenossen wissen wirklich nicht, wann sie genug haben." Tina gluckste vergnügt. Jackson wurde ärgerlich. "Also ich kann daran nichts Witziges finden, wenn sich erwachsene Menschen wie die wilden Horden aufführen. Besonders wenn sie mir damit meinen Feierabend verderben!" Tina gab sich nicht mal Mühe, sich zusammenzureißen. "Natürlich nicht, Nathan. Wir haben die wilden Horden übrigens in zwei Gruppen aufgeteilt. Deine... Patienten sind in der Vier." Nathan konnte Tinas merkwürdiges Verhalten nicht deuten - es blieb ihm nichts anderes übrig, als der Sache auf den Grund zu gehen. Er drückte ihr das Clipboard in die Hand, ging mit langen Schritten zum Behandlungsraum und blieb wie erstarrt im Türrahmen stehen. "Ihr!" "Hallo, Nathan!" Buck Wilmington hob eine Hand zum Gruß, zuckte dann bei der Bewegung zusammen. Aha, das ist dann die ausgerenkte Schulter! "Nathan." Josiah Sanchez nickte leicht, schloss dann die Augen und umklammerte den Rand der Liege, auf der er saß. Die Gehirnerschütterung. "Dr. Jackson, es ist mir schrecklich peinlich, Sie zu dieser späten Stunde noch--" "Klappe, Ezra!" Ezra Standish sah bei der rüden Unterbrechung zu Larabee und seufzte. Er nahm das Taschentuch, das er gegen die linke Wange gedrückt hatte, herunter, faltete es neu und drückte es wieder gegen die Schnittwunde. Nathan sah zum nächsten Patienten. "Chris?" "Linker Knöchel. Is' wohl verstaucht." "JD?" "Wie teuer sind Goldkronen?", kam die kleinlaute Reaktion. "Mr. Dunne, wenn Sie glauben, Sie könnten mir mein Marken-" Der Chor war fünfstimmig: "Klappe, Ezra!" Nathan stemmte die Hände in die Hüften. "Und was ist mit dir, Vin? Ich hoffe, wenigstens einer von euch hat einen kühlen Kopf bewahrt." "Tut mir leid." Vin Tanner drehte sich langsam zu ihm um. Veilchen. Mehrzahl.
Während der Behandlung hatte Schweigen geherrscht. Ezra hatte noch zweimal zu einer Bemerkung angesetzt, hatte sie sich bei den eisigen Blicken seiner Teamkollegen aber verkniffen. Nathan konzentrierte sich darauf, mit Tinas Hilfe die Wunden zu versorgen. Vor der Schwester würde er keine Show abziehen - das hier blieb in der Familie. Was immer das hier auch war. Zumindest war es keine Heldentat gewesen. Dazu waren seine Teamkollegen viel zu niedergeschlagen - Buck flirtete nicht einmal mit Tina. "Brauchst du mich noch, Doc?" Wortlos schüttelte Nathan den Kopf und Tina eilte aus dem Zimmer. Noch bevor die Tür zuschlug, brach die Schwester in schallendes Gelächter aus. "Was ist passiert?" Nathan sah seine Kollegen der Reihe nach an. Tanner und Larabee starrten auf den Fußboden - aus den beiden würde er nie etwas herausbringen. Ezra blickte ihn herausfordernd an. Er war deutlich eingeschnappt. Josiah zuckte mit den Schultern. "Die Sache war schon in vollem Gange, als ich dazukam. Und an viel mehr kann ich mich auch nicht erinnern." Er rieb sich den Kopf. "Welche Sache?", donnerte Nathan. Er wirbelte herum. "Buck!" "Okay, ich erzähl's dir. Normaler Weise wärst du ja eh' dabei gewesen." "Also?" "Alsoooo - JD ist schuld." "Was?" JD sprang auf wie von der Tarantel gestochen. "Du spinnst ja jetzt wohl völlig. Wenn hier jemand Schuld hat, dann doch wohl Chris!" "Buck hat Recht, es ist deine Schuld, JD." Nathan pfiff gellend. Die Streithähne verstummten abrupt. "Mich interessiert nicht, wer Schuld hat, sondern nur was passiert ist, zum Teufel. Gehöre ich zum Team oder nicht?" Einhelliges Nicken. "Also dann, letzter Versuch. Ezra!" "WAAAS? Wieso fragst du ausgerechnet den?" "Halt die Klappe, Buck, du hast deine Chance vertan. JD auch. Und ich glaube nicht, dass Chris oder Vin ohne Folter ihren Mund aufmachen würden. Bleiben ja dann nicht mehr viele übrig." "Oh, vielen Dank, Dr. Jackson, für diese äußerst schmeichelnde Argumentation. Nichtsdestotrotz bin ich wohl als einziger in der Lage, etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen. Schließlich--" "Ezra, bitte. Kurz und knapp. Es ist fast halb vier!" "Nun denn. Wir konnten für unseren heuti-- ähem, gestrigen Umtrunk nicht die bewährten Örtlichkeiten von Señora Inez nutzen, da ihr Etabilissement von den Pinguinen für eine geschlossene Gesellschaft gemietet worden war." "Pinguine mieten Restaurants?" "Sie wollten doch kurz, oder?! Pinguine ist übrigens Mr. Tanners Formulierung, nicht die meine. Es handelt es sich um die Ehrenwerten Mitglieder des Vereins zum Schutz und der Förderung der Pinguinpopulation in nord- und mittelamerikanischen zoologischen Gärten und-" "Okay, ich begreife - komm zurück aufs Gleis, Ezra." "Mr. Dunne hier hatte von einer technische Neuerung gehört, das sich in der Erprobungsphase befindet. Sein jugendlicher Enthusiasmus für derartige Spielereien ist nicht leicht zu entmutigen--" "Letzte Warnung, Ezra!" "Wir landeten also bei Mulligan's. Und er stattete uns auch mit dieser Neuheit aus. Bei dieser Erfindung handelt sich dabei um Bierdeckel, die dem Barkeeper signalisieren, wenn der Inhalt eines Glases unterhalb eines bestimmten Pegels fällt. Unnötig lange Wartezeiten sind damit praktisch ausgeschlossen." "Ich sehe das Problem nicht." " Zuerst klappte alles tadellos, die Versorgung lief wie am Schnürchen. Besonders nachdem Mr. Dunne entdeckt hatte, dass die Deckel mit Bewegungssensoren ausgestattet sind, die ebenfalls dieses Signal auslösen." "Schon klar. Weiter." "Wir konnten uns über prompte Bedienung nicht beklagen - und nutzten den exzellenten Service mit größtem Vergnügen aus. Leider--" Standish unterbrach sich und warf einen Blick zu Larabee, der kurz nickte. "Leider brachte der Alkoholkonsum unseren geschätzten Anführer in eine etwas melancholische Stimmung. Nun ja, irgendwann begann er... hmmm, wie drücke ich es aus? Die gebräuchliche Redewendung ist wohl: er hielt sich an seinem Glas fest. Seinem leeren Glas." "Und?" "Da der Druck auf den Bierdeckel ja nicht nachließ, kam kein Nachschub mehr. Es fiel zunächst keinem von uns auf - Mr. Larabee äußerte seinen Unmut in düsterem Schweigen. Bis es ihm wohl zu viel wurde. Er sprang plötzlich auf und donnerte los." "'Mulligan!'" JD und Buck schreckten bei der Standishs gekonnter Demonstration hoch. "Mr. Mulligan war sofort zur Stelle und bekam eine Standpauke Marke Chris Larabee zu spüren. "Was muss ein Mann tun, um sich hier anständig besaufen zu können? Drehst uns hier neckische Spielzeuge an, die den Geist aufgeben, wenn's drauf ankommt! Saftladen!" Ezra holte tief Luft. "Wie Sie vielleicht wissen, ist Mr. Mulligan kein Mann, der über ein ausgeglichenes Wesen verfügt. Mr. Larabees Angriffe auf sein Etablissement waren wie ein brennendes Streichholz, das man in ein Pulverfass wirft. Innerhalb von Sekunden war die Situation außer Kontrolle. Wir anderen hatten nicht den Hauch einer Chance, Mr. Larabee und Mr. Mulligan über das Missverständnis aufzuklären. Und es dauerte auch nur Augenblicke, bis wir ebenfalls in die Auseinandersetzung hineingezogen wurden. Das ganze Lokal schien auf so einen Kampf geradezu gewartet zu haben." "Chris war wohl nicht der einzige, der etwas zu viel intus hatte." "Ich möchte Ihrer Vermutung nicht widersprechen, Dr. Jackson." "Josiah?" "Ich habe versucht, schlichtend einzugreifen, aber selbst mein Schädel hält einen solchen Schlag nicht aus. Da fällt mir ein: Was hat mich da eigentlich getroffen?" "Ein Stuhlbein, Josiah." "Danke, Vin." "Keine Ursache, Kumpel." Nathan schüttelte erneut den Kopf. "Euch kann man keine Sekunde aus den Augen lassen." "Ach komm schon, Nathan." Buck lachte kurz auf. "Du hättest das auch nicht verhindert. Erinnerst du dich an die Geschichte im Legoland? Wenn ich mich richtig erinnere, war es doch deine Idee, diesem oh-so-verdächtigen Subjekt in die Lagerhalle zu folgen. Mann, ich habe noch drei Tage später von Legosteinen geträumt!" "Ja, genau, Dr. Jackson. Und die Sache mit dem von Ihnen organisierten Wettessen auf Miss Netties Benefizveranstaltung im letzten Sommer? Vier Wochen habe ich mich mit dieser stinkenden Salbe einreiben müssen." "Hey, du musst zugeben, dass eine Basilikumallergie äußerst selten ist! Aber ihr habt Recht, ich hätte an diesem Malheur auch nichts ändern können." Josiah schlenderte zu Nathan und legte ihm den Arm um die Schultern. "Wir hatten Glück, dass du Dienst hattest - so bleibt die Sache unter uns." "Du vergisst Tina. Wenn die Geschichte erst mal im Schwesternzimmer Gesprächsthema ist..." Allgemeines Aufstöhnen. "Wir sollten machen, dass wir hier rauskommen." Chris stand auf, testete den Stützverband, den Nathan ihm angelegt hatte. "Ein Gutes hat die Sache allerdings." Das Team drehte sich geschlossen zu JD um. "Ich hab' einen von diesen Deckeln mitgehen lassen. Wäre doch gelacht, wenn ich dem Teil seine Kinderkrankheiten nicht austreiben kann!" Buck packte JD am Arm. "Komm mir noch einmal mit diesen Deckeln und du wirst Ezra fragen hören Muss das rektal untersucht werden?!" JD beeilte sich, von Buck und aus dem Behandlungszimmer wegzukommen. Als Nathan sich umgezogen hatte, verließen sie gemeinsam die Notaufnahme. Vin lachte leise. "Wenigstens wissen wir jetzt eins. Schuld sind nur die Pinguine."
zusätzliche Anmerkung: Die in dieser Geschichte beschriebene technische Neuerung gibt es wirklich - BFBS im Halbschlaf zu hören führt zu überraschenden Bunny-Attacken. Guckst du hier: http://news.bbc.co.uk/1/hi/technology/4298344.stm
|| Fiction || |