Closer Still
Author:
Shendara
Closer Still Prologue And
I will catch you if you fall -- When the Rain Begins to Fall, Jermaine Jackson --
Lärm. Weitaus lauter als die üblichen Geräusche des Saloons zu später Stunde, lauter als ein normaler Streit... eine ausgewachsene Schlägerei. "Vin! Pass auf!" Keine Sekunde nach Ezras Schrei ließ Vin sich zur Seite und auf den Boden fallen, dadurch verfehlte der Mann hinter ihm sein Ziel, verlor das Gleichgewicht und stürzte mitsamt dem Sessel, den er seinem Gegner über den Schädel hatte ziehen wollen, zu Boden. Mit einer rein instinktiven Bewegung brachte Vin die Arme des Mannes hinter dessen Rücken zusammen und wollte ihn gerade auf die Beine und in weiterer Folge zum Gefängnis bringen, als plötzlich JDs lautes "Chris!" seine Aufmerksamkeit auf das andere Ende des Raumes lenkte. Verdammt, nein!, war das Einzige, das Vin in den Sinn kam - ob er es bloß gedacht oder mit voller Kraft in die Welt geschrieen hatte, wusste er nicht. Automatisch ließ er den Mann, mit dem er eben noch gekämpft hatte, los und zurück zu Boden fallen - er war unwichtig. Alles war im Moment unwichtig, das Einzige, das wirklich zählte, war Chris, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht konzentriert genug, nicht schnell genug gewesen war und jetzt reglos am Boden lag, während das Holz unter ihm langsam von Blut verdeckt wurde. Ein Messer. Seltsam, irgendwie hatte Vin immer gedacht, dass eine Kugel das Leben von Chris beenden würde, nicht so etwas Primitives wie ein Messer. "Chris." Das Wort war nur geflüstert, trotzdem war es für Vin ungewöhnlich, überhaupt im Schlaf zu sprechen - egal, mit welchem Horror er sich in seinen Träumen konfrontiert sah. Mit einem Ruck setzte er sich auf und unterdrückte nur knapp einen Fluch. Verdammter Alptraum! Würde es nie mehr aufhören? Und warum zum Teufel quälte ihn dieser Traum Nacht für Nacht? Weil es fast geschehen wäre, deswegen, hallte die Antwort in seinen Gedanken wider.
Part 1 Warum ich? Chris Larabee starrte in sein Whiskeyglas, als ob es ihm die Frage beantworten könnte. Sein erster Drink und noch immer voll - seit gut zwei Stunden. Obwohl er im Moment nichts lieber getan hätte, als den Inhalt der Flasche in einem Zug hinunterzuwürgen, beherrschte er sich. Zwar nicht unbedingt wegen der Uhrzeit, sondern, weil er heute dran war, die äußeren Farmen im Umkreis um Four Corners zu überprüfen, Nathans Protesten zum Trotz. Warum? Die Frage, die er sich immer und immer wieder stellte - und auf die er von Tag zu Tag unbefriedigendere Antworten fand. Instinkt. Verpflichtung. Ehrgefühl. Buße. Eine Möglichkeit, sich töten zu lassen und dabei sogar noch mit seinem Ruf intakt auszusteigen. Soweit ein Ruf wie seiner überhaupt noch als intakt bezeichnet werden konnte... Und stattdessen? Verdammt! Mit einem resignierten Seufzen schob Chris das Glas von sich und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Saloon. Four Corners. Kurz nach neun Uhr vormittags. Ich sollte mich auf den Weg machen. Er warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Whiskey, bevor er das Glas mit einer abrupten Bewegung vom Tisch stieß, aufstand und den Saloon verließ. Besser, es hinter sich zu bringen; Patrouille in sengender Sommersonne war nie ein Vergnügen. Nicht mit einer Horde Fremder in Four Corners, die die Gesetzeshüter der Stadt dazu zwangen, noch vorsichtiger als sonst zu sein - was Doppel- und teilweise sogar Dreifachschichten bedeutete, da sie zur Zeit nur zu fünft waren. Josiah und Ezra hatten einen Botenritt zu erledigen. Und dazu kam noch, dass die Luft in der Stadt förmlich nach Ärger roch. Einige von vielen Gründen, heute auf den Whiskey zu verzichten - doch der Hauptgrund war und blieb die Tatsache, dass er ein ungutes Gefühl hatte. Und Chris hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich auf seine Gefühle zu verlassen. Unbewusst rieb er sich den rechten Oberschenkel; es war zwar - seiner Meinung nach - nur ein eine oberflächliche Verletzung, aber es reichte, um ihn langsamer zu machen. Noch ein Grund mehr, sich nicht in die Flasche zu flüchten; nicht, dass er das in den letzten Monaten besonders oft getan hätte. Irgendwie erschien es ihm in letzter Zeit nicht mehr so wichtig, seine Sorgen - und sich selbst - im Alkohol zu ertränken; langsam aber sicher kehrte er wieder zu seiner alten Einstellung zurück: Wer es nötig hatte, seine Sorgen mit Alkohol zu betäuben, war nicht Manns genug, sich mit seinen Problemen zu beschäftigen. Nicht, dass er es sonderlich oft tat - er ergriff jede Möglichkeit, sich abzulenken - doch der Alkohol bot ihm schon seit einiger Zeit keine Zuflucht mehr. Und in letzter Zeit erwischte er sich selbst immer öfter dabei, an seine Familie denken zu können, ohne sofort in blinde Wut zu verfallen und nach der nächsten Flasche zu suchen. Er wusste zwar nicht, ob er diese Entwicklung begrüßen sollte oder nicht, konnte jedoch nichts dagegen machen. Mit einem leisen Seufzen lehnte er sich gegen einen der Pfosten vor dem Sheriffsbüro, dankbar, für ein paar Minuten das Gewicht von seinem Bein zu bekommen. Er lächelte leicht, als Buck einem skeptischen JD von seiner letzten Eroberung erzählte - die Geschichte war selbst für Buck etwas zu weit hergeholt - machte jedoch keinerlei Anstalten, das Gebäude zu betreten. Stattdessen beobachtete er einige Cowboys von der James Ranch, die sich nicht gerade in den Zellen des Sheriffsbüros befanden, auf ihrem Weg zum Saloon. Jetzt waren sie noch halbwegs friedlich - ein paar Stunden und Flaschen Whiskey später würde es wieder unweigerlich zu Kämpfen kommen. Chris seufzte leise, nicht einmal unter der Woche hatte man mehr Ruhe von den Typen. Verdammte Cowboys! Es hatte seinen Grund, warum jeder, der ihn mit diesem Spitznamen ansprach, automatisch sein Todesurteil unterschrieb - Chris Larabee hasste Cowboys wie kaum etwas Anderes auf der Welt. Ungewaschene, ungehobelte, brutale, nichtsnutzige Typen, die nichts konnten, außer Vieh - wer jetzt wirklich dümmer war, Kuh oder Cowboy, darüber wagte Chris gar nicht erst zu spekulieren - durch die Gegend zu jagen, Kinder und Frauen zu erschrecken und sinnlose Gewalt vom Zaun zu brechen. Wie so oft bei diesem Gedankengang kam die Erinnerung an seinen ersten Tag in der Stadt wieder an die Oberfläche: Cowboys, die laut schreiend in die Luft schossen und einen unschuldigen Mann dafür hängen wollten, dass der Wundbrand einen der ihren getötet hatte. Was konnte Nathan schon dafür, wenn sie den Mann viel zu spät zu ihm gebracht hatten? Mit einem leichten Kopfschütteln verdrängte Chris die Erinnerung wieder; er wollte sich nicht in der Vergangenheit verlieren. Die Vergangenheit war genau das - vergangen - Nathan hatte überlebt und zumindest diese Cowboys würden nie wieder einen Fuß auch nur in die Nähe der Stadt setzen. "Hey, Cowboy!" Der leise Gruß brachte ein Lächeln auf Chris' Lippen. Gut, es gab eine Person auf dieser Erde, die ihn "Cowboy" nennen und leben durfte. "Vin", erwiderte er knapp. "Macht das Bein noch immer Probleme?" Mit einem leichten Nicken deutete Vin auf die Hand, die noch immer in Höhe der Stichwunde auf Chris’ rechtem Oberschenkel ruhte. "Nichts, mit dem ich nicht allein fertig werden würde." Wie zum Beweis richtete Chris sich zu seiner vollen Größe auf und trat einen Schritt nach vorne - nur um im nächsten Moment mit einem leisen Stöhnen zusammenzuzucken. "Verdammt!" Ohne etwas zu sagen, beobachtete Vin, wie Chris sich langsam wieder gegen den Pfosten lehnte und dabei den Großteil seines Gewichts eindeutig auf sein linkes Bein verlagerte. "Sicher", stimmte Vin zu. "Falls du trotzdem Gesellschaft willst..." Er ließ den Satz unvollendet, als Chris zustimmend nickte. Gesellschaft war zwar im Moment das Letzte, das er im Sinn hatte, doch mit Vin als Begleitung konnte er leben. In den vergangenen drei Tagen, seitdem bei einer Schlägerei im Saloon einer der Kämpfer ein Messer gezogen und Chris verletzt hatte, wich Vin kaum mehr von seiner Seite - immer in der Nähe, meistens im Hintergrund und diskret, aber trotzdem. Es war ein ungewohntes Gefühl, aber eines, an das Chris sich gewöhnen konnte. Zumindest ist er subtiler als Nathan oder gar Buck... "Gib' mir noch ein paar Minuten", murmelte Chris abwesend, während er auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Männer beobachtete, die er bisher noch nicht gesehen hatte. "Kennst du sie?" Einer der Männer kam ihm vage bekannt vor, Chris konnte jedoch beim besten Willen nicht sagen warum oder woher. Besser, wenn er sich nicht den Kopf darüber zerbrach; irgendwann würde es ihm schon einfallen. Und sollten die Fremden Ärger machen, war er mehr als sicher, dass Buck, JD und Nathan damit fertig werden konnten. Natürlich war Vin seinem Blick gefolgt, schüttelte jedoch fast sofort den Kopf. "Noch nie gesehen. Warum?" Denkst du, dass sie Ärger machen werden?, lautete die unausgesprochene Frage. "Möglich." Aber nicht heute. "Fertig?" "Ich warte nur noch auf dich." Ein kurzer Seitenblick war alles, was Chris darauf zu erwidern hatte, als er sich langsam auf den Weg zum Stall machte, innerlich noch immer die Schläger von Letztens verfluchend. Auch wenn er sich eher die Zunge abbiss, als zuzugeben, dass ihm so etwas Banales wie ein Messerstich - kaum mehr als ein Kratzer, auch wenn Nathan die Wunde hatte nähen müssen - so zu schaffen machte. Der Weg bis zum Mietstall schien geradezu endlos, doch Chris schaffte den Weg, ohne dass man ihm die Verletzung sofort ansah. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte man das leichte Hinken – Chris’ Gesicht wurde Gott sei Dank von seinem Hut verdeckt, ansonsten hätte jeder sofort erkannt, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Mit einem erleichterten Aufatmen versuchte er, seine völlig verkrampften Rückenmuskeln etwas zu lockern, sobald er die Sicherheit des Gebäudes erreicht hatte. Er wusste, dass Vin direkt hinter ihm war, doch der Mann war der Einzige, der auch sehen durfte, wie schlecht Chris Larabee sich wirklich fühlte. "Willst du noch ein wenig warten?" Und wieder zu atmen anfangen? Gut gemeint und Chris hätte nichts lieber getan, als das Angebot anzunehmen - wenn sein Stolz es ihm nicht verboten hätte. "Nein", entschied er. "Es ist spät, und ich will noch nach den Richards und Nettie Wells sehen." Er konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, als er den teils überraschten, teils erfreuten Ausdruck auf Vins Gesicht bemerkte. Um ehrlich zu sein, war der Entschluss, auch nach Nettie zu sehen, erst in diesem Moment gefallen. Warum nicht?, dachte er. Wenn wir ohnehin schon so weit raus müssen...
Die Sonne stand im Zenit, und keine einzige Wolke hinderte sie daran, ihre Strahlen mit voller Kraft auf die Erde zu bringen. Zum wiederholten Mal fuhr Chris sich mit einer Hand über die Stirn; er war sich nicht sicher, ob der ganze Schweiß wirklich von der Hitze kam oder ob nicht auch ein leichtes Fieber eine Rolle dabei spielte. Er seufzte leise, als er nach seiner Wasserflasche griff - nur um leise zu fluchen, als er feststellte, dass sie so gut wie leer war. Er beschloss, den Rest Wasser aufzubewahren, bis er es dringender brauchte, und befestigte den Behälter wieder am Sattel. Erst dann erlaubte er es sich, für einige Sekunden die Augen zu schließen und zu versuchen, sich zu entspannen. Er hatte Kopfschmerzen, er fühlte sich miserabel... Chris hätte im Moment alles für ein Glas Whiskey gegeben. Nein, besser eine ganze Flasche... Seine Gedanken an Saloon und Whiskey wurden von Vins leisem, besorgten "Wie geht’s dir?" unterbrochen. Fast sofort flackerte die Wut, die, wie ein Raubtier, immer im Hintergrund lauerte, wieder auf, und noch bevor er Vins Worte oder gar den Tonfall richtig registriert hatte, war seine Antwort heraußen. "Hast du noch irgend eine andere Frage, die du stellen kannst? Mir geht es gut, verstanden?", fauchte Chris zurück. Verdammt, langsam aber sicher wurde er wirklich wütend... nicht, dass es dazu sonderlich viel brauchte. "Okay, was kann ich dafür, wenn..." Der Rest des Satzes war zu leise, um von Chris gehört zu werden, und er hatte den Verdacht, dass er es auch gar nicht wissen wollte. Es wurde einfach zu viel... die ständigen Blicke von Vin, dazu die Ermahnungen von Buck und Nathan, es ja ruhig anzugehen und dem Bein die Möglichkeit zu geben, wirklich zu heilen... Zum Teufel, es war doch bloß eine kleine, oberflächliche Stichverletzung, und seine Freunde behandelte ihn, als ob er gerade noch einmal dem Tode entronnen war. Die Tatsache, dass die Verletzung ziemlich tief war und er auch einiges an Blut verloren hatte, hatte Chris schon längst erfolgreich in sein Unterbewusstsein verdrängt - wie schon so vieles andere zuvor. "Sorry", murmelte er einige Momente später. Was in alles in der Welt ihn dazu veranlasste, sich plötzlich zu entschuldigen, war ihm ein Rätsel, aber jetzt war es zu spät, um das Wort zurückzunehmen. "Können wir das Thema jetzt lassen?" Vins Antwort bestand aus einem Geräusch, das vage als "Ja" gedeutet werden konnte und Chris gab sich damit zufrieden. Noch einmal suchte er den Weg ab, bevor er es sich erlaubte, mit seinen Gedanken wieder abzudriften; etwas, das er normalerweise nie tat. Vins "Kommst du endlich, oder willst du den Rest des Tages da oben verbringen?" riss Chris einige Zeit später aus seinen Gedanken. Automatisch streckte er sich durch und nahm eine aufrechtere Haltung ein. Ein leises Kichern lenkte seine Aufmerksamkeit auf Vin, der neben ihm am Boden stand und zu ihm hinauf grinste. "Für mich musst du keine Haltung annehmen", meinte er schließlich. "Aber es wäre nett, wenn du deinen Hintern vom Sattel schwingst und mir hilfst." "Helfen? Wobei?" Erst nachdem er die Frage gestellt hatte, ließ Chris seinen Blick über die nähere Umgebung schweifen - und stöhnte gleich darauf innerlich auf. Nicht jetzt! "Lass' es sein, wir müssen weiter", meinte er schließlich. Vins Blick sagte deutlich, was er von diesem Befehl hielt. "Wir können es nicht einfach lassen. Was ist, wenn..." Während Vins Vortrag, warum und wieso sie den Baumstamm nicht quer über dem Weg liegen lassen konnten, schloss Chris die Augen, als das Sonnenlicht endgültig zuviel wurde und seine Kopfschmerzen fast explosionsartig verstärkte. Er nahm Vins Stimme nur noch am Rande war, einzelne Worte verstand er schon längst nicht mehr. Er glaubte, eine Veränderung in der Stimme seines Freundes zu erkennen - ist sie wirklich lauter geworden? - entschied sich dann jedoch dafür, es zu ignorieren. Verdammt, vermutlich erklärte Tanner gerade, dass der Baum eventuell einer Schlange im Weg liegen konnte... "Chris!" Der laute Schrei riss ihn schließlich wieder halb aus diesem Dämmerzustand, trotzdem schaffte er es nicht, seinen Blick wirklich auf Vin zu konzentrieren. "Larabee!" Noch lauter, doch diesmal zeigte Chris keine Reaktion mehr. Das Letzte, was er noch mitbekam, war, wie er seinen Halt im Sattel verlor und der Boden langsam immer näher kam...
Part 2 "Chris? Chris! Verdammt!" Leise fluchend schaffte Vin es gerade noch rechtzeitig, die wenigen Meter Abstand zu überwinden, um Chris' Sturz zu Boden abfangen zu können. Mit einem leisen Schrei ging er unter dem Gewicht des etwas schwereren Mannes zu Boden. "Verdammt noch mal, was ist mir dir los?" Jetzt, wo der erste Schock etwas nachließ, kam der Ärger. Mit Mühe bekämpfte Vin das Gefühl und verbannte es so gut es ging in sein Innerstes; seine Wut konnte er später noch an Larabee auslassen. Dann, wenn er wieder bei Bewusstsein war, würde Vin ihm zeigen, was er von Aktionen wie diesen hielt... Mit schnellen und sicheren Bewegungen suchte er Chris' Körper nach Verletzungen ab - er mochte zwar den Sturz überwiegend abgefangen haben, aber man konnte nie ganz sicher sein. Warum? Die Frage quälte ihn seit dem Moment, in dem er sich unter Chris' regloser Gestalt hervorgequetscht hatte. Erst als eine seiner Hände eher durch Zufall wie gewollt Chris' Stirn berührte, spürte er das Fieber. "Verflucht", murmelte er leise. "Verdammter Idiot! Das hast du davon, dass du dich nie an die Ratschläge Anderer halten kannst!" Ratschläge... nein, zumindest von Nathan aus waren es schon eher Anweisungen oder gar Befehle gewesen, dass Chris sich in den nächsten Tagen zurückhalten sollte. Mit einiger Anstrengung schaffte er es, Chris in den Schatten eines nahen Baumes zu schaffen. Ärger, nichts als Ärger... Er verschwendete keinen Atem damit, einen Mann zu verfluchen, der ihn ohnehin nicht hören konnte. Doch Gedanken waren etwas völlig anderes...
"Zurückhalten! Weißt du, was das bedeutet, Larabee?" Chris verzog bei Vins etwas zu lauter Frage schmerzhaft das Gesicht, sagte jedoch nichts. "Das heißt", fuhr Vin, von Chris' Stille nicht im Geringsten beeindruckt und noch immer auf sich selbst wütend, fort, "dass du in der Stadt bleibst, wenn schon nicht in deinem Zimmer. Und nicht wie ein Irrer durch die Gegend reitest!" Es war einfach, die gesamte Schuld auf Chris abzuschieben und dadurch nicht daran denken zu müssen, dass er eigentlich hätte sehen müssen, wie mies es Larabee wirklich ging. Ich hätte ihn niemals ausreiten lassen sollen. "Ich bin nicht wie ein Irrer geritten." Es war das Erste, das Chris sagte, seitdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war. "Und wie nennt man es dann, wenn man mit Fieber auf Patrouille geht?" "Pflichtbewusstsein." Das Wort mochte vielleicht ernst gemeint sein - trotzdem konnte Vin ein Grinsen nicht unterdrücken. "Eher Wahnsinn, wenn du mich fragst." "Dich fragt aber keiner." "Du weißt genau," Vin ignorierte Chris' Einwurf, "dass jeder von uns deinen Dienst übernommen hätte, wenn du nur etwas gesagt hättest." "Was hättest du an meiner Stelle getan?" Schachmatt. Vins Schultern sackten deutlich in sich zusammen und Chris wusste, dass er ihn hatte. "Von mir aus." Mit einem Satz war Vin wieder auf den Beinen und auf dem Weg zu den Pferden. "Bring' dich nur um, Larabee, ist doch eh jedem egal!" Da er mit dem Rücken zu Chris stand, sah Vin zwar nicht den Schimmer von Trauer, der über Chris' Gesicht huschte, doch er hörte das leise geflüsterte "ist nichts Neues". Die Wut über seine derzeitige Situation verschwand und wurde von einer anderen, wesentlich stärkeren abgelöst. "Diese Diskussion ist sinnlos", stellte Vin ruhig - zu ruhig - fest. "Du bist ein sturer Hurenbock, und ich verschwende nicht länger meine Zeit damit, dir den Kopf zurechtzurücken. Verdammt, vermutlich gibt es niemanden auf der Welt, der das könnte!" "Und wenn es diese Person gäbe - du bist es bestimmt nicht!", knurrte Chris zurück. Langsam aber sicher wurde es ihm zuviel... die Hitze, Vins Vorwürfe, die Kopfschmerzen, das dumpfe Pochen in seinem Bein... Mit einiger Anstrengung schaffte er es, zuerst auf die Beine zu kommen, und danach, ohne hinzufallen, zu seinem Pferd. Einige Minuten und etliche Flüche später, hatte er es auch auf den Rücken des Tieres geschafft und wandte es in Richtung Stadt zurück - alles, ohne auch nur ein einziges Mal in Vin Tanners Richtung zu sehen. "Ich höre mir das nicht länger an", murmelte er gerade laut genug, dass Vin ihn verstehen konnte. "Ich habe Besseres zu tun, als mir erklären zu lassen, was ich zu tun und zu lassen habe." Er biss die Zähne zusammen, als die leichten Bewegungen Spirits die diversen Schmerzen, die er nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen wollte, noch stärker aufflammen ließen. Trotzdem gab er nicht auf und zwang sich dazu, es einfach hinzunehmen. Vin beobachtete die sich langsam entfernende Gestalt und seufzte leise. Es war offensichtlich, wie mies es Larabee ging, und ihm war auch klar, dass Chris es alleine niemals zurück bis in die Stadt schaffen würde. Schon jetzt, noch keine fünfhundert Meter von Vin entfernt, sackte sein Oberkörper leicht nach vorne... "Verdammter, nichtsnutziger..." Er unterbrach sich, bevor er den vertrauten Fluch vollenden konnte. Er stimmte ohnehin nicht. Mit einem letzten Blick auf die Umgebung vergewisserte Vin sich, dass alles ruhig war, bevor er sich daran machte, Chris zu folgen - um den Mann aufzufangen, wenn er schlussendlich vom Pferd fiel. Er zweifelte nicht daran, dass genau das früher oder später passieren würde - vermutlich früher.
Er musste nicht lange warten. Keine halbe Stunde nach ihrem Streit blieb Spirit plötzlich stehen. Misstrauisch hielt Vin noch einige Minuten lang Abstand; er war sich nicht sicher, weshalb Chris angehalten hatte. Keine Regung, weder von Pferd noch Reiter. Langsam und noch immer wachsam - Larabees Reflexe waren nicht zu unterschätzen - schloss Vin auf und blieb schließlich einen knappen Meter neben ihm stehen. "Verdammt", seufzte Vin. Er hatte erwartet, dass es soweit kam - aber nicht so schnell. Anscheinend hatte er Chris' Durchhaltevermögen überschätzt; oder aber unterschätzt, wie schlecht es ihm wirklich ging. Der Mann schien fest dazu entschlossen zu sein, Vins Alpträume in die Realität umzusetzen... "Chris? Komm schon..." Ein leichtes Schütteln an der Schulter bewirkte nur, dass Chris fast vom Pferd fiel, und Vin gab auf. Larabee war weggetreten und zwar total. Vin vermutete, dass ihn in diesem Moment nicht einmal eine Schießerei aufwecken würde, geschweige denn er alleine. "Ich hoffe, du weißt es zu schätzen", murmelte er leise, während er mit geübten Bewegungen Pesos Zügel an Chris' Sattelhorn befestigte und selbst hinter dem Bewusstlosen in den Sattel glitt. Vin hasste es, zu zweit reiten zu müssen, aber in dieser Situation blieb ihm nichts Anderes übrig. Ein schneller Blick auf ihre derzeitige Position machte ihm klar, dass Chris' Anwesen wesentlich näher als die Stadt oder die nächste Farm war - somit war zumindest einmal die Frage nach ihrem Ziel geklärt. Jetzt musste er sie beide nur noch dort hinbringen... Nach einigen Minuten hatte er es geschafft, eine halbwegs komfortable Haltung zu finden und Chris dazu zu bringen, sich gegen ihn zu lehnen. Selbst bewusstlos wehrte er sich noch gegen jede Art von Hilfe, und blieb verkrampft. Erst nach einiger Zeit und Vins gutem Zureden entspannte er sich etwas. Vin bezweifelte, dass Chris irgendetwas davon bewußt mitbekommen hatte.
"Chris? Komm schon, wenn ich mit jemandem rede, erwarte ich auch eine Antwort..." Vin? Ja, die Stimme war unverkennbar. Aber warum? Was tat er überhaupt hier? Und wo war "hier"? Nein, entschied er sich. Er wollte es gar nicht wissen. Es wollte viel lieber zurück... zurück an den Ort, an dem er eben noch gewesen war. Wo, das wusste er nicht mehr. Nur, dass er dort allein war, niemand ihm gesagt hatte, was er zu tun und zu lassen hatte... "Chris!" Vins Stimme... hatte sie vorhin auch schon so geklungen? Frustriert mit einer guten Portion Besorgnis? "Komm zurück!" Zurück? Von wo? Und warum? Egal, die Antworten auf diese Fragen interessierten ihn nicht. Er hörte, dass Vin noch etwas sagte, verstand die Worte aber nicht mehr. Wollte sie nicht verstehen. Er wollte nicht zurück - hier war es viel besser. Auch wenn er noch immer nicht wusste, wo "hier" war...
Dunkelheit war das Erste, das Chris wahrnahm, als er wieder zu sich kam. Das Zweite war das brutale Pochen in seinem Oberschenkel und die Kopfschmerzen - was jetzt mehr weh tat, konnte er beim besten Willen nicht feststellen. Das Dritte war, dass im kalt war. Kalt? Im Hochsommer? Sein erst auf halber Geschwindigkeit laufender Verstand schaffte es nicht, die logische Verbindung herzustellen. Erst nach einigen Minuten, war er soweit, dass er seine Umgebung erkennen konnte - die Hütte auf seinem Grund. Es war die Anstrengung nicht wert, seine Augen offen zu halten - also schloss er sie wieder. Wie war er hier her gekommen? Nach und nach setzten sich die Bruchstücke seiner Erinnerung zusammen... bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Vin zurück gelassen hatte, um zurück in die Stadt zu reiten. Danach? Leere, unterbrochen von einigen vagen Erinnerungen an Vins Stimme, wobei er sich jedoch nicht sicher sein konnte, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen war. "Chris?" Soviel zu der Theorie, dass er es aus eigener Kraft hier her geschafft hatte. "Chris?" Vins Stimme war leise, fast zu leise, um von Chris gehört zu werden. Er wollte antworten, wusste aber nicht was. Seine Augen waren noch immer geschlossen, wie er erst jetzt feststellte - Vin konnte unmöglich wissen, dass er wach war. Ein leises Seufzen, als Chris nicht reagierte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er etwas sagen sollte, oder zumindest ein Zeichen geben, dass er wach war... Doch Irgendetwas hielt ihn davon ab. Schließlich entschied er, dass es die Anstrengung, die ihn ein solcher Versuch zweifelsohne kosten würde, nicht wert war. Stattdessen konzentrierte er sich auf die leisen Geräusche Vins, als dieser sich langsam durch die Hütte bewegte und sie schließlich verließ. Panik. Anders konnte Chris das Gefühl, das das Wissen, dass er jetzt allein war, in ihm auslöste, nicht beschreiben. Nach einiger Zeit - er konnte beim besten Willen nicht sagen wie lange - hielt er es nicht länger aus und zwang sich dazu, seine Augen zu öffnen. Trotz der düsteren Umgebung musste er blinzeln, und es dauerte, bis er wieder etwas erkennen konnte. Und diese Kopfschmerzen... verdammt, hörten sie denn nie mehr auf? Selbst das diffuse Dämmerungslicht, das durch das Fenster in den Raum fiel, und die schwach brennende Lampe auf dem Tisch waren fast zuviel. Sofort schloss Chris seine Augen wieder. Nein. Er war stärker als der Schmerz, war es schon oft gewesen. Er konnte ihn auch diesmal besiegen. Er zwang sich dazu, die Augen erneut zu öffnen und diesmal auch offen zu lassen. Als er es endlich geschafft hatte, auf die Beine zu kommen, fiel er fast zurück, als das verletzte Bein plötzlich nachgab. Verdammt, daran hatte er gar nicht mehr gedacht... "Chris! Verdammt, dich kann man nicht einmal für eine Minute..." Vins Stimme verklang, als er sich darauf konzentrierte, Chris - und sich selbst - davor zu bewahren, zu Boden zu gehen. "Langsam aber sicher solltest selbst du kapiert haben, dass du besser nicht aufstehst." Keine Antwort. "Chris?" "Ich bin da." Waren diese leisen, kaum hörbaren Worte wirklich aus seinem Mund gekommen? "Ich weiß, immerhin habe ich Augen im Kopf", lautete Vins Antwort. Es war jedoch klar, dass sein Grinsen nicht wirklich ernst gemeint war - die Sorge in seiner Stimme war unüberhörbar. "Und jetzt sag mir, warum um alles in der Welt du aufgestanden bist! Du müsstest doch gemerkt haben, dass das eine miese Idee ist, oder?" Vin war nicht wirklich wütend, sondern besorgt. Doch ähnlich wie Chris tendierte er dazu, derartige Emotionen durch Ärger auszudrücken. "Ich warte", meinte er, als einige Zeit keine Antwort kam. "Ich...", begann Chris, nur um gleich darauf wieder zu verstummen. Was sollte er sagen? Ich hatte Angst, dass du weg gegangen bist? Oh ja, sicher, das würde sicher gut ankommen. "Vergiss es", zischte er schließlich. "Ich lebe noch, Fall erledigt. Was ist passiert?" Wenn man mit etwas nicht zurecht kam, einfach ablenken - funktionierte so gut wie immer. Für einige Zeit war ein leises Seufzen Vins einzige Antwort, während er Chris zu der nächstbesten Sitzgelegenheit, einem Sessel, half - das Bett war im Moment viel zu weit entfernt. Er wusste genau, was Chris bezweckte, und auch Chris wusste, dass er es wusste. Die einzig logische Konsequenz bestand darin, dass das Thema starb, noch bevor es wirklich geboren war. "Und da bleibst du jetzt auch", befahl Vin, als Chris Anstalten machte, wieder aufzustehen. "Vin?" "An was erinnerst du dich?" Für die Frage erntete Vin einen wütenden Blick - kein Wunder. Chris hasste es, wenn auf seine Fragen mit Gegenfragen geantwortet wurde. Doch ausnahmsweise hatte Vin es nicht getan, um den anderen Mann auf die Palme zu jagen - er wollte wirklich wissen, an was Chris sich noch erinnern konnte. Er vermutete, dass es nicht sonderlich viel war. Er hatte Recht. "Ich..." Chris wählte seine Worte vorsichtig, wollte vor Vin - und sich selbst - nicht ganz so verloren erscheinen, wie er im Grunde genommen war. "Wir sind ausgeritten. Wollten die äußeren Farmen überprüfen." Vin nickte. In den nächsten Minuten wurde schnell klar, dass Chris' letzte Erinnerung darin bestand, dass sie durch den Baumstamm, der den Weg versperrt hatte, aufgehalten worden waren. Danach? Nichts mehr. In einer leicht abgeänderten Version - Chris brauchte weder zu wissen, in welch schlechter Verfassung er wirklich gewesen war, als sie endlich hier angekommen waren, noch, dass sie zuvor eine Auseinandersetzung gehabt hatten - brachte Vin ihn auf den aktuellen Stand der Dinge. "Und was erzählst du mir nicht?" "Bitte?" Chris schloss kurz die Augen und presste seine Handflächen gegen die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren noch immer nicht verschwunden, nicht einmal besser geworden. Er war am Ende seiner Kraft, ganz zu schweigen seiner Geduld. "Sag', was los war, und wir vergessen die Sache, okay?" Denkst du, dachte Vin. "Nicht viel", erwiderte er. "Du warst..." Gott, wie sollte er es formulieren? "Wie fühlst du dich jetzt, Larabee? Und keine Lügen." Chris' ohnehin schon finstere Miene verdunkelte sich noch weiter. Was hatte denn das mit der Sache zu tun? Aber wenn es Vin zum Reden brachte... bitte schön. "Kopfschmerzen", gab er zu. "Mein Bein bringt mich halb um, und", er legte eine kurze Pause ein, "die letzten Reste meiner Geduld haben sich soeben verabschiedet." Was so viel wie Schlimmer, und mein Kopf fällt ab, die Stichwunde fühlt sich an, als ob das Messer noch drinnen wäre und noch ein Wort mehr und ich bringe ich mit meinem bloßen Händen um bedeutete. Vin kannte Chris lange genug, um seine Untertreibungen richtig deuten zu können. "Komm. Wir schaffen dich zurück ins Bett, und dann können wir dieses Gespräch weiterführen, okay?" Vin brauchte keine Bestätigung, sondern zog Chris fast sofort in die Höhe. Zum wiederholten Mal fiel ihm auf, dass der Mann im Grunde genommen viel zu leicht war - aber ihm wurden ständig Vorwürfe gemacht, er sei abgemagert. Kommt vermutlich davon, dass es sich bei ihm niemand zu sagen traut. "Vin?" Erst bei Chris' leiser Frage fiel ihm auf, dass er völlig abgedriftet war und Chris ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier ansah. "Alles in Ordnung?" "Ja, ich... habe nur nachgedacht." "Das kannst du?" "Klappe! Falls du es noch nicht bemerkt hast, Larabee, du bist hier meiner Gnade ausgeliefert." Die Worte mochten vielleicht drohend sein, nicht jedoch der Tonfall. "Worüber?", unterbrach Chris erneut seine Gedanken. "Hmm?" "Worüber hast du nachgedacht?" Gott, und da behaupteten Leute tatsächlich, er sei es, der kaum ein Wort herausbrachte? Chris schüttelte leicht den Kopf; er hatte noch nie etwas auf das Gerede anderer Leute gegeben und würde es auch in Zukunft nicht tun. "Nur ein Gedanke, nichts Wichtiges." Chris spürte, dass das nur die halbe Wahrheit war, ließ es jedoch für den Augenblick auf sich beruhen. Wenn Vin nicht wollte, gab es nichts, aber auch schon gar nichts, was ihn zum Reden brachte. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. In letzter Zeit fielen ihm mehr und mehr dieser Ähnlichkeiten auf.
Part 3 Dem Himmel sei Dank. Vin lächelte leicht, als er die schlafende Gestalt auf der andere Seite des Raumes beobachtete. Wie er geahnt - und gehofft - hatte, war Chris, sobald er wieder in seinem Bett war, eingeschlafen. Erschöpfung, leichtes Fieber und akuter Schlafmangel in den vergangenen Wochen hatten Vin davor gerettet, Larabee Rede und Antwort zu stehen. Mit langsamen und fast lautlosen Bewegungen überwand er die wenigen Meter Entfernung, bis er direkt neben Chris stand. Mehrere Minuten lang beobachtete Vin ihn einfach nur, mit den Gedanken meilenweit entfernt. Automatisch und nicht wirklich überraschend wanderten seine Gedanken drei Tage zurück, zu dem Zeitpunkt kurz bevor die Schlägerei im Saloon neben einigem Sachschaden und gebrochenen Knochen für drei Männer Chris die Stichverletzung eingebracht hatte, die ihm - ob er es jetzt zugab oder nicht - ziemlich zu schaffen machte und ihn, Vin Tanner, mit regelmäßigen Alpträumen vom Tod seines Freundes versorgte. Verdammt, ein genauer Blick auf Larabee zeigte deutlich den inneren Kampf, den er selbst im Schlaf ausfocht, um sich nichts anmerken zu lassen. Vin war sich sicher, dass außer ihm, Buck und Nathan niemand wusste, wie schlimm die Schmerzen wirklich waren. Die Tatsache, dass Chris seit dem Zwischenfall noch mehr Abstand als gewöhnlich zwischen sich und die Stadt - inklusive dem Rest ihrer Gruppe - gebracht hatte, war aber sicherlich der Hauptgrund dafür. "Du wirst es nie mehr lernen, oder?", murmelte er leise. "Was?" Erst war Vin sich nicht sicher, ob er die Frage wirklich gehört oder sich nur eingebildet hatte - erst als er aufblickte, bemerkte er, dass Chris ihn ansah. Müde, nicht ganz da, aber eindeutig wach. "Was werde ich nie mehr lernen?", wiederholte Chris seine Frage, während Vin mit einer schnellen Bewegung prüfte, ob das Fieber noch da war. Es war, allerdings wesentlich leichter. Eine Nacht mit Schlaf und Entspannung und es dürfte ganz verschwunden sein. Vin seufzte und ging neben dem Bett in die Knie. "Viele Dinge. Dich auf andere zu verlassen. Zuzugeben, wenn es dir schlecht geht..." "Ist nicht meine Art." Der Kommentar brachte Vin zum ersten Mal in den vergangenen Tagen wirklich zum Lachen. "Ich weiß, genauso wenig wie meine. Aber hin und wieder solltest du - sollten wir - versuchen, über unseren eigenen Schatten zu springen." "Ich springe so schnell nirgendwo hin", erwiderte Chris leise. "Ich weiß." Vin wusste, dass Chris die Bedeutung seiner Worte genau verstanden hatte, genauso wie er auch wusste, dass Chris niemals zugeben würde, dass sein Weg nicht der richtige war. "Lass mich mal sehen." Ein Funken von Widerstand flackerte in Chris Augen auf, war jedoch fast augenblicklich wieder vergangen. Entgegen Vins Erwartungen kamen keine Proteste, stattdessen erteilte Chris mit einem leichten Nicken seine Erlaubnis. Er versucht es. Es war offensichtlich, dass Chris sich unwohl fühlte und die bloße Vorstellung, jemand anderen so nahe an sich heran zu lassen, seine sämtlichen Überlebensinstinkte erwachen ließ. Gerade Nathan hatte mit ihm oft seine Probleme - im Grunde genommen gab es nur einen Zustand, in dem man Chris Larabee ungefährdet gegenüber treten konnte: Und zwar dann, wenn er bewusstlos war. Um so mehr fiel es Vin auf, dass Chris jetzt - bis auf eine leichte Anspannung seines Körpers - nicht weiter reagierte. Vertrauen. Das war es doch, was er Chris gerade hatte begreiflich machen wollen, nicht? Warum war er also jetzt so überrascht davon, dass Chris es wirklich versuchen wollte? Weil ich es niemals könnte, wenn die Situation umgekehrt wäre. Der Gedanke war ernüchternd und nach einer Sekunde entschied Vin, dass er es auch nicht wert war, weiter verfolgt zu werden. Zumindest nicht jetzt. Diese Art von Überlegungen ließ er nur dann zu, wenn er alleine war und selbst dann selten. Zu schnell bemerkte er dann, wie gestört sein Verhältnis zum Rest der Menschheit wirklich war... Im Moment war er einfach froh darüber, dass Chris kooperierte, und über seine eigenen Mängel in Bezug auf Vertrauen konnte er später nachdenken. Viel später. "Vin? Tust du etwas, oder willst du mich weiter beobachten?" Gott, er hasste es, wenn Leute das taten... Erst jetzt bemerkte Vin, dass er sich nicht bewegt hatte - seine Hand lag noch immer auf Chris' Oberschenkel, das war allerdings schon alles. "Ich war in Gedanken." Es sollte wie eine Feststellung klingen, kam jedoch eher als Entschuldigung rüber. "Müssen ziemlich wichtige Gedanken gewesen sein, deinem Gesichtsausdruck nach zu schließen." Und du denkst heute viel zu viel, fügte Chris lautlos hinzu. Oh ja, verdammt wichtig. Und verdammt ungemütlich. Vin zwang sich dazu, seine Gedanken nicht weiter abschweifen zu lassen und sich voll und ganz auf die Gegenwart - und Chris - zu konzentrieren. Mit schnellen, aber trotzdem vorsichtigen Bewegungen entfernte er den Verband. Chris hätte es auch selbst gekonnt doch Vin wusste, dass Chris - ähnlich wie er selbst - es nicht tun würde. Warum genau sie beide unfähig schienen, sich um ihre eigenen Verletzungen zu kümmern, war ein Rätsel, das wohl nie mehr gelöst werden würde; Tatsache war jedoch, dass sie diese Aufgabe für den jeweils anderen übernahmen, sobald Nathan damit einverstanden war. Vielleicht war der Grund dafür auch schlicht und ergreifend Angst. Jemand anders konnte schnell einen Verband wechseln, während man selbst zu langsam und vorsichtig war, um unnötige Schmerzen zu verhindern. Und genau dadurch alles schlimmer machte. Oder, weil es einfach angenehm war, einmal für eine Weile jemand anderem die Kontrolle zu überlassen, auch wenn weder Chris noch Vin das jemals zugeben würden. Die Wunde verheilte gut, trotzdem würde es noch einige Zeit dauern, bis Chris keine Schmerzen mehr haben würde, geschweige denn wieder normal gehen konnte. Die Erinnerung an ihr morgendliches Treffen in der Stadt kam wieder an die Oberfläche, und Vin seufzte leise, als er sich an Chris' langsamen, fast unsicheren Gang erinnerte. Nicht der Hauch einer Ähnlichkeit mit der normalen Eleganz, die Chris bei jeder noch so simplen Bewegung an den Tag legte. Gelegt hatte. "Es hätte nicht passieren sollen", murmelte er leise. "Ist es aber. Zu spät, sich jetzt noch darüber aufzuregen." Instinktiv wusste Chris, worauf Vin anspielte - die Tatsache, dass das Messer ihn nur erwischt hatte, weil Vin für einen Moment abgelenkt gewesen war und dadurch übersehen hatte, dass Chris' Gegner die Waffe gezogen hatte. "Wir hatten das Thema schon, und es ist erledigt. Es ist genauso meine Schuld." Ich war zu langsam. Was er allerdings noch nicht herausgefunden hatte war, ob seine Reflexe nachgelassen hatten oder die Attacke wirklich zu schnell gewesen war, um ihr noch ausweichen zu können. Eine Frage, die Chris sich in den vergangenen Tagen mehrmals gestellt hatte - ohne zufriedenstellende Antwort. Doch tief in seinem Inneren vermutete er, dass er zu langsam gewesen war. Ein beunruhigender Gedanke, vor allem, wenn er bedachte, dass er sich im Laufe seines Lebens mehr als genug Feinde gemacht hatte, die vielleicht eines Tages hier auftauchen würden. Er wusste mit Sicherheit, dass zumindest einige dieser Leute noch heute nach ihm suchten. Was also, wenn er wirklich nachließ, wirklich langsamer wurde? Chris machte sich keine Illusionen - er wurde nicht jünger und von Tag zu Tag wurde die Gefahr größer, dass jemand auftauchte, der schlicht und ergreifend schneller war als er. Oder mehr Glück hatte. Und vermutlich jünger als er selbst war. Ein Gedanke, dazu geeignet, um Kopfschmerzen zu provozieren - als ob er davon nicht schon genug hatte. Kopfschmerzen... jetzt, woran er daran dachte, wurde ihm bewusst, dass selbst jetzt - nach Ruhe und sogar ein wenig Schlaf - sein Kopf noch immer kurz vor der Explosion stand. Verdammt. Geschlossene Augen, leicht angespannte Muskeln... offensichtlich ging es Chris doch nicht so gut, wie Vin ursprünglich angenommen hatte. "Schlaf", befahl er leise. "Wir können über alles später reden." Es war deutliches Zeichen für Chris' Erschöpfung, dass er nicht widersprach, sondern bloß leise seufzte. Wenige Minuten später war er bereits wieder eingeschlafen. Während all der Zeit hatte Vin sich kein einziges Mal von der Stelle gerührt, und er hatte auch nicht vor, das zu ändern. Falls es notwendig sein sollte, würde er die nächste Woche hier verbringen... er wollte verhindern, dass Chris noch einmal alleine aufwachte und in blinder Panik nach ihm suchte. Blinde Panik. Ein Begriff, den er nie zuvor mit Chris Larabee in Verbindung gebracht hatte. Aber Fieber brachte oft die seltsamsten Charaktereigenschaften eines Mannes an die Oberfläche... "Idiot", murmelte er leise, obwohl er nicht wusste, wen von ihnen beiden er überhaupt meinte. Langsam und jedes überflüssige Geräusch vermeidend, stand Vin kurz auf, um beleidigte Muskeln etwas durchzustrecken, bevor er neben Chris' Bett erst in die Knie ging, sich jedoch nach einigen Minuten für eine etwas bequemere Haltung entschied und die Beine ausstreckte. Kurz darauf war auch er eingeschlafen.
Warm. Es war viel zu warm hier. Hier... es dauerte zwar einige Sekunden, aber danach wusste Chris, wo er war. Kurz darauf kam auch der Rest seiner Erinnerung bruchstückhaft zurück. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war Vins sanfte Stimme, die ihm befohlen hatte zu schlafen. Der Schlaf hatte ihm gut getan. Das erste Mal seit einigen Tagen waren diese elenden Kopfschmerzen wirklich restlos verschwunden, und auch das konstante Pochen der Messerwunde war wesentlich leichter zu ertragen als noch vor wenigen Stunden. Mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen setzte Chris sich auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen - alles beim Alten. Das schwache Licht der untergehenden Sonne warf kaum noch genug Licht durch das Fenster, um etwas zu erkennen, aber Chris brauchte kein Licht, um seine Umgebung zu sehen. Nein, hier - in einer vertrauten Umgebung - ging er allein nach Instinkt. Trotzdem... etwas fehlte. "Vin?" Das Wort war ausgesprochen, noch bevor er sich wirklich dessen bewusst war, dass er Vin nirgendwo sehen konnte. Keine Antwort. Seltsam. Diesmal - nach Ruhe und wesentlich klarer im Kopf als beim letzten Aufwachen - unterdrückte Chris den Drang, erneut aufzustehen und auf Suche zu gehen, und suchte seine Umgebung stattdessen mit den Augen ab. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er Vin halb liegend, halb sitzend direkt neben ihm auf dem Boden entdeckte. Den Kopf hatte er gegen die Wand gelehnt und zum ersten Mal konnte Chris einen ungehinderten Blick auf Vin werfen. "Hey, aufwachen", rief er leise, ohne jedoch eine Reaktion zu bewirken. "Vin?" Noch immer kein Zeichen dafür, dass er gehört wurde. Der Schwindel, der ihn erfasste, als er sich aufsetzte, verging zwar fast sofort wieder; trotzdem war der Gedanke daran, sich hinunterzulehnen, genug, um Chris' Magen rebellieren zu lassen. Gut, wenn Vin nichts mitbekam und er nicht nach unten sehen konnte, blieb ihm wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich auf den Boden zu begeben. Ebenfalls eine nicht gerade erfreuliche Option angesichts der Umstände, aber immer noch das kleinste Übel. Auf die Idee, dass er einfach bleiben konnte, wo er war, und darauf warten, dass Vin von selbst aufwachte, kam Chris nicht; es war selbstverständlich, dass er Vin aufweckte. Warum er das wollte? Selbst als er später wirklich darüber nachdachte, konnte er keine Antwort auf diese Frage finden. Es war einfach etwas, das er zu tun hatte, und es lag in seiner Natur, Gefühlen zu folgen und sie nicht erst zu überdenken. Ein Verhalten, das ihn schon öfters in Schwierigkeiten gebracht hatte... und ihm doch einige der besten Dinge in seinem Leben verschafft hatte. Er hätte niemals Sarah für sich erobert, wenn er Hank an jenem Tag nicht ignoriert und sie trotzdem zum Tanz gebeten hätte. Er hätte niemals Vin und dadurch den Rest seiner Männer kennen gelernt, wenn er an diesem Tag nicht seinem Gefühl gefolgt wäre und den Saloon verlassen hätte. Er wäre mittlerweile tot, wenn er nicht rein instinktiv gehandelt hätte und sich zu Boden fallen lassen, als jener Wahnsinnige mit dem Messer auf ihn einstach - die Klinge hätte ihn geradewegs in Brusthöhe getroffen. Er wäre jetzt nicht hier, durch Fieber und Erschöpfung mehr oder weniger ans Bett gefesselt, wenn er nicht seinem Instinkt gefolgt wäre und trotz aller Gründe, die dagegen sprachen, ausgeritten wäre. Halt, falsch. Das ist eindeutig ein Eintrag auf der Minusseite der Liste. Chris lachte leise auf, warum, hatte er in der nächsten Minute auch schon wieder vergessen. Die Kopfschmerzen, die er endlich los geglaubt hatte, hatten sich in dem Moment wieder gemeldet, in dem er seinen Kopf vom Polster gehoben hatte, und drohten jetzt, zusammen mit dem Schwindel, ihm den Magen umzudrehen. Keine angenehme Vorstellung, sich direkt über dem schlafenden Vin zu übergeben... Mit einiger Anstrengung schaffte Chris es, seinen rebellischen Körper wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen und aufzustehen. So weit, so gut. Jetzt musste er es nur noch zu Vin auf die andere Seite des Bettes schaffen ohne dabei hinzuknallen und sich total zu erniedrigen. Leichter gesagt als getan, aber das hier war genauso eine Herausforderung wie zum Beispiel einem wütenden Mann direkt vor die Mündung der Waffe zu treten. Er hatte genau das mehr als einmal getan - Chris Larabee liebte Herausforderungen. Und nichts anderes war diese Situation hier; eine Herausforderung an ihn, sowohl geistig als auch körperlich, die er zu bestehen gedachte. Die Alternative war undenkbar - wie immer, Versagen kein Wort, das Chris gerne mit seiner Person in Verbindung brachte, und die wenigen Male, in denen er es wirklich getan hatte, waren Erinnerungen, die wahrlich keine neue Gesellschaft mehr brauchten. "Chris..." Es dauerte einen Moment, bis Chris erkannte, dass das leise Geräusch wirklich sein Name war. "Vin?" Keine Antwort, etwas, das Chris verunsicherte. Er hätte Vin nie für jemanden gehalten, der im Schlaf sprach, selbst im wachen Zustand schaffte der Mann es, sich fast unsichtbar zu machen und von fast niemandem bemerkt zu werden. Eine Notwendigkeit für jeden, der ein Leben auf der Flucht führte. Es dauerte lange, und Chris unterdrückte mehr als einen Fluch, doch er schaffte es, neben Vin auf die Knie zu gehen. Die ohnehin schon unbequeme Haltung wurde zur puren Tortur für sein verletztes Bein, doch im Moment war es egal, er konnte die Schmerzen verdrängen. Gut, vielleicht nicht wirklich verdrängen - dazu waren sie einfach zu stark - aber er konnte sie nach hinten schieben und mit ihnen leben. Zumindest für eine kurze Zeit. Er hoffte bloß, dass Vin bald aufwachte und sie beide aus dieser Situation befreite. "Hey, aufwachen", meinte er leise. Langsam begann er sich Sorgen zu machen - Vin hätte in dem Moment erwachen müssen, in dem Chris seinen ersten Versuch aufzustehen gemacht hatte. Wenn Worte nicht reichten... Mit einer langsamen, unsicheren Bewegung streckte Chris eine Hand aus, sie verharrte wenige Zentimeter vor Vins Gesicht. Was zum Teufel tue ich hier eigentlich? Eine gute Frage ohne Antwort - zumindest keine, an die Chris im Moment denken wollte. Instinkt. Wie schon unzählige Male zuvor verließ er sich einzig und allein auf seine Gefühle und zwang sich bewusst dazu, nicht über seine Handlungen nachzudenken. Er zögerte noch eine Sekunde lang, dann zog er seine Hand zurück, verwirrter den je.
Part 4 Was war das eben gewesen? Woher war es gekommen? Und - die Hauptfrage - wie weit wäre er unter anderen Umständen noch gegangen? Sich an einen schlafenden Vin Tanner heranzuschleichen, grenzte ohnehin fast schon an ein Selbstmordkommando, aber ihn dann auch noch zu berühren... der sicherste Weg, um auf schnellstem Weg in die Hölle zu kommen. "Verdammt." Das Fieber musste ihn unter besserer Kontrolle haben, als er ursprünglich angenommen hatte... er machte sich schon Gedanke über die absurdesten Dinge. Zurück, er musste wieder zurück, bevor Vin doch noch aufwachte und er sich erklären musste. Wie zum Teufel sollte er das hier erklären? Er wusste ja nicht einmal selbst genau, was los war, außer, dass es ihm nicht sonderlich gefiel. Oder etwa doch? Nein, sicher nicht. Er schüttelte leicht den Kopf. Trotzdem wurde er ein vages Gefühl, dass hier mehr war, als er sah, nicht los... Langsam und vorsichtig, rief er sich ins Gedächtnis, als eine kleine falsche Bewegung sein Blickfeld verschwimmen und den Schmerz in seinem Bein erneut aufflammen ließ. Du hast es hier runter geschafft, du schaffst es auch wieder zurück. Chris hörte sein leises Stöhnen zwar nicht, doch Vin tat es. Um genau zu sein, war er schon seit einer ganzen Weile wach, jedoch zu neugierig, was Chris im Sinn hatte, um das auch zu zeigen. Stattdessen hatte er die letzten Reste seiner Geduld aufgebracht und abgewartet. Nur, um enttäuscht zu werden. Nein, nicht ganz. Aber in dem Moment, in dem er schon damit gerechnet hatte, dass Chris ihn gleich berührte, hatte irgend ein Gefühl den anderen Mann dazu veranlasst, sich wieder zurückzuziehen. Verdammt. Sein eigener Ärger war vergessen, als er den schmerzerfüllten Laut hörte - zu leise, um als Schrei zu gelten, gerade etwas über einem Stöhnen. "Chris?" Das Wort war ausgesprochen, noch bevor er seine Augen geöffnet hatte, doch er erhielt keine Antwort. Er sprach nicht weiter, nach einem Blick in Chris' schmerzverzerrtes Gesicht war klar, dass er jenseits von Verstehen war. Eine Hand hielt er fest gegen die Stichverletzung gepresst, während er versuchte, sich mit der anderen am Bett hochzuziehen. Trotz der offensichtlichen Schmerzen kam dabei kein Laut über Chris' Lippen, etwas, das Vin Angst machte. Kein Mensch sollte eine derart hohe Schmerzgrenze haben. "Komm, ich helfe dir." Wie erwartet, zeigte Chris keinerlei Reaktion auf seine Worte. Mit einer schnellen und etwas brutalen Bewegung packte Vin Chris unter den Armen und zog ihn in die Höhe; diesmal erhielt er eine Reaktion, wenn auch nur einen leisen Schrei. "Sorry", murmelte Vin leise, während er Chris wesentlich sanfter in eine sitzende Lage auf der Bettkante dirigierte. "Lass mich." Mit einer schnellen Bewegung schlug er Chris' Hand beiseite, um sich die Verletzung ansehen zu können - Gott sei Dank war sie nicht wieder aufgerissen, doch Vin vermutete, dass der dunkle und weitläufige Bluterguss rund um die Wunde die Hauptursache für die Schmerzen war. Kleine Ursache, große Wirkung. "Geht schon wieder, lass es sein." Langsam beruhigte Chris' Atmung sich und er wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst. "Du kannst mich loslassen", wiederholte er etwas lauter, als Vin sich noch immer nicht rührte. Was war mit dem Mann los? Es war heute schon das zweite Mal, dass Vin ihn anscheinend nicht loslassen wollte. "Vin?" Diesmal war seine Stimme leiser und klang verwirrt. Nichts und niemand ergab mehr Sinn für ihn, weder seine Gefühle, noch Vins Verhalten, von seinem eigenen einmal ganz zu schweigen. Die Verwirrung und Unsicherheit stand Chris deutlich ins Gesicht geschrieben und wenn es nicht so weh getan hätte, hätte Vin es sicherlich für amüsant gehalten. Aber unter diesen Umständen... "Klar." Schnell zog er seine Hand wieder zurück - zu schnell, um Chris' Aufmerksamkeit zu entgehen. Was ist los? Die Frage lag ihm auf der Zunge, doch im letzten Moment hielt Chris sich zurück. Teilweise, weil er langsam aber sicher damit begann, die Antwort darauf selbst zu finden, und teilweise, weil er Angst vor ihr hatte. Was, wenn er recht hatte? Besser nicht darüber nachdenken. Noch so eine Lebenseinstellung, die ihn schon öfters in Schwierigkeiten gebracht hatte. Mit einem lautlosen Seufzen zog Vin seine Hand wieder zurück. Er hatte geglaubt, dass... Nein, unterbrach er den Gedanken. Ich weiß es. Aber Chris anscheinend noch nicht. Oder war es nur schlichte Angst vor dem Unbekannten, die Chris derart zögerlich reagieren ließ? Nein, Vin konnte und wollte das nicht glauben. Chris Larabee war der Typ Mann, der dem Unbekannten mit hocherhobenen Kopf entgegentrat und es herausforderte. Egal in welcher Lebenslage. "Du solltest dich ein, zwei Tage ausruhen", unterbrach er schließlich die Stille. "Du hast noch immer leichtes Fieber, und dein Bein wird es dir danken, wenn du es für eine Weile nicht belastest." Vin legte den Kopf leicht schief und warf Chris einen abschätzenden Blick zu. "Nicht zu vergessen, dass du mir zweimal vom Pferd gekippt bist." Das sind Zeichen, Chris. Zeichen dafür, dass du besser auf dich aufpassen musst. Worte, die er niemals aussprechen konnte, doch er wusste, dass Chris ihn auch so verstehen würde. Ein leichtes Nicken war Chris' einzige Antwort, bevor er sich wieder hinlegte und auf die Seite drehte - seltsamerweise jedoch mit dem Gesicht zu Vin. "Und wie geht es dir?" Die Frage war mehr als überraschend, und Vins Gesichtsausdruck musste es widergespiegelt haben. "Es war nicht gerade die bequemste Haltung da unten." "Ach so, das..." Ein Schulterzucken. "Ich hatte schon Schlimmeres." Besseres aber auch. Sein Nacken war verspannt, was ihm Kopfschmerzen bescherte, und auch sein Rücken protestierte gegen die unnatürliche Haltung, die er für zu lange Zeit eingenommen hatte. Trotzdem war das alles nur ein kleiner Preis dafür, um in Chris' Nähe zu sein. "Komm her." "Was?" Chris' Blick sagte mehr als tausend Worte, und fast wie von selbst stand Vin auf und ließ sich auf der Bettkante nieder. Diesmal kommentierte er den leisen Schmerzenslaut nicht, den Chris von sich gab, als er sich langsam wieder aufsetzte. Er wusste noch immer nicht, was genau los war, und diese Ungewissheit machte ihn leicht nervös - nicht, dass er das jemals zugegeben hätte. "Ganz ruhig, ich tue dir nichts." Kannst du jetzt Gedanken lesen, oder was? Diesmal folgte keine Antwort, was Vins Frage vielleicht beantwortete. "Nicht erschrecken." Für einen Moment fragte Vin sich, warum Chris in vorwarnte, doch im nächsten Augenblick konnte er sich die Antwort auch schon selbst geben - bei jeder unerwarteten Berührung ergriff er sofort die Flucht, noch bevor er sie richtig spüren konnte. Ein Reflex, den er sich über lange Zeit angeeignet hatte und wohl nie wieder loswerden werden würde. Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Chris seinen Kopf mit beiden Hände leicht nach vorne beugte - zu sachte, um ihn wirklich zu zwingen, eher eine Geste, die ihm zeigen sollte, was er zu tun hatte. Ohne einen bewussten Gedanken daran zu verschwenden, folgte er dem sanften Kommando - wenn er jemandem vertrauen konnte, dann dem Mann, der jetzt hinter ihm saß. Als nächstes spürte er Finger in seinem Haar, die die einzelnen Strähnen sanft, und darauf bedacht keine Schmerzen zu verursachen, aus dem Weg schafften. Vin lächelte leicht, langsam bekam er eine Ahnung davon, auf was das hinauszielte. Vielleicht hatte er seine Hoffnungen zu früh begraben... Im nächsten Moment spürte er, wie Chris mit festen und sicheren Bewegungen die verspannten Muskeln seines Nackens und der Schultern massierte, ihn langsam dazu brachte, sich wirklich zu entspannen. Vin konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal einfach so fallen gelassen hatte; wann er sich das letzte Mal sicher genug gefühlt hatte, um sich gehen zu lassen. Ein leises, zufriedenes Stöhnen kam über seine Lippen, noch bevor er bemerkte, dass die Hände mittlerweile zum Stillstand gekommen waren. "Alles in Ordnung?" Vin zuckte leicht zusammen, als Chris' Stimme derart nahe an seinem Ohr erklang, dass er den leichten Lufthauch des Atems des anderen Mannes spüren konnte. "Ja", brachte er nach einigen Augenblicken heraus. In Ordnung?, wiederholte er. Verdammt, er hatte sich noch nie besser gefühlt! Chris' zufriedenes und amüsiertes "Gut!" war fast zu leise, um gehört zu werden. "Zieh dich aus." "Wie bitte?!" Die Entspannung war augenblicklich wieder verflogen, und eben noch fast geschlossene Augen öffneten sich sofort in Alarmbereitschaft. "Dein Hemd. Zieh' es aus", befahl Chris leise, durch Vins plötzliche Nervosität nicht im geringsten beeindruckt. Als er erkannte, dass er ohne weitere Erklärungen nicht weiter kommen würde, seufzte er leise. "Du bist verspannter als Josiah vor seiner ersten Sonntagspredigt, und ich habe vor, etwas dagegen zu tun, einverstanden?" Für einige Sekunden starrte Vin ihn an, als ob er kein Wort verstand, bevor er leicht nickte. "Ich beiße nicht und verspreche, mich zu benehmen." "Chris!" Der Angesprochene grinste nur, und Vin bedankte sich mit einem leichten Lächeln für seine Aufmunterung. "Ich habe nichts gegen Bisse - unter den richtigen Umständen." "Und was sind 'die richtigen Umstände'?" Diesmal gab Vin keine Antwort, sondern beschäftigte sich lieber damit, die Knöpfe seines Hemds aufzubekommen. Waren die Dinger wirklich immer schon so klein und unhandlich gewesen? Seltsam, es war ihm zuvor noch nie aufgefallen... Nach schier endlos erscheinenden Minuten - er war nicht immer derart ungeschickt, oder? - hatte Vin es endlich geschafft, sich von seinem Hemd zu befreien; nur um danach festzustellen, dass er es jetzt nicht mehr fertig brachte, Chris in die Augen zu sehen. "Leg dich hin." Chris' Stimme war leise, fast nicht zu hören, und Vin brauchte einen Moment, bevor er die Worte richtig verarbeitet hatte. Mit einem knappen Nicken drehte er sich um und legte sich neben Chris auf den Bauch - während all der Zeit hielt er seinen Kopf noch immer gesenkt. Weniger aufgrund der Tatsache, dass er sich schämte - das tat er nicht - sondern, weil er sich nicht sicher war, ob er wissen wollte, was Chris dachte. Und er wusste, dass in dieser Situation ein Blick reichen würde, um ihm alles zu verraten, was er wissen wollte. Oder eben was er nicht wissen wollte. Ein Risiko, das er weder eingehen wollte noch konnte. Es dauerte einige Momente, bis er eine halbwegs bequeme Position gefunden hatte, die er - falls nötig - auch für eine längere Zeit aushalten konnte. Er hatte noch immer keine Ahnung, was eigentlich gerade passierte - nein, Ahnungen hatte er schon. Was er jedoch nicht miteinander in Einklang bringen konnte, war Chris' jetziges Verhalten und das, was der Mann noch vor wenigen Minuten an den Tag gelegt hatte. Vorhin schien Chris regelrecht Angst davor gehabt zu haben, ihn zu berühren, und jetzt bot er Vin eine Massage an? Vermutlich versteht er es nicht einmal selbst. Der Gedankte ließ Vin lächeln und bei genauerer Betrachtung schien es auch die beste Erklärung zu sein. Die Gedanken beschäftigten ihn derart, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass Chris mittlerweile damit begonnen hatte, mit geübten Bewegungen sämtliche Verspannungen aus seinen Muskeln zu beseitigen. Dafür war er sich dessen jetzt umso bewusster... jede Berührung war wie neu und überraschend - und woher zum Teufel konnte Chris es überhaupt so gut? Wer hätte erwartet, dass jemand wie Chris zu derart sanften Berührungen fähig wer? Um ehrlich zu sein, hatte Vin bis heute nicht geglaubt, dass Chris jemals wieder einen Menschen derart nahe an sich heran ließ, zumindest in körperlicher Hinsicht. Emotional? Ob Larabee es zugeben wollte oder nicht - Vin und in etwas geringerem Ausmaße auch die restlichen Fünf ihrer Gruppe, waren über die letzte Jahre langsam hinter die Mauern und Schutzwälle gedrungen, die Chris um sich und seine Gefühle errichtet hatte. "Du machst das gut", stellte er leise fest, als Chris sich langsam tiefer arbeitete. "Ich habe von der Besten gelernt", antwortete Chris genauso leise, ein Schimmer von Trauer in seiner Stimme. "Sarah", beantwortete er die ungestellte Frage, obwohl es eigentlich unnötig war. Vin wusste die Antwort auch so. "Und was hat sie dir noch beigebracht?" Kaum, dass er die Frage ausgesprochen hatte, biss Vin sich auf die Zunge. Verdammt, woher war denn das gekommen? Er wollte die Stimmung doch nicht killen! Nach einigen Sekunden Stille erhielt er jedoch eine Antwort. "Nicht viel. Obwohl sie versucht hat, mir die Grundlagen des Kochens beizubringen - erfolglos. Buck war in dieser Hinsicht der bessere Schüler." Das leichte Lächeln war in Chris' Stimme fast zu hören. "Allerdings hat sie mir bald verziehen, nachdem ich mein Talent beim Massieren bewiesen habe." "Und was für ein Talent..." In Gedanken nahm Vin sich fest vor, Buck bei nächster Gelegenheit auf seine Kochkünste anzusprechen - derartiges Wissen war viel zu kostbar, um nicht verwertet zu werden. Vin murmelte derart leise, dass Chris ihn fast nicht mehr verstehen konnte - ein deutliches Anzeichen dafür, dass er schon so gut wie eingeschlafen war. "Schön, dass es deinen Anforderungen entspricht." Nach der kurzen Unterhaltung regierte wieder Stille den Raum. Chris verlor sich langsam in Erinnerungen an frühere Zeiten und Sarah, während Vin mit aller Macht gegen den Schlaf ankämpfte, den die sanften und dabei doch kräftigen Berührungen regelrecht herbeizurufen schienen. Einige Zeit später Vin war fast soweit, den Kampf aufzugeben, als er von Chris' Stimme wieder zurück gerissen wurde. "Vin?" "Hmm?" Eine Hand blieb auf Vins Nacken liegen, während die zweite vorsichtig einige Haarsträhnen beiseite strich, damit die beiden sich in die Augen sehen konnten. "Was machen wir hier eigentlich?" "Ist doch offensichtlich, oder?" Vin war noch immer viel zu tief in einem tranceähnlichen Zustand gefangen, um wirklich über die Frage nachzudenken. "Ja." Langsam wachte Vins Gehirn wieder auf und begann zu arbeiten. "Hast du was dagegen?" Mit einem Schlag war Vin hellwach. "Was soll das?" Er war zu geschockt, um sich zu bewegen, abgesehen davon war das Gefühl von Chris' Händen auf seinem Rücken viel zu schön, um aufgegeben zu werden. "Ist doch offensichtlich, oder?", bekam er seine eigene Bemerkung zurück. "Die Frage", fuhr Chris fort, "ist, ob du auch dazu bereit bist, dem Weg zu folgen." Weg? Welcher Weg? Alles, was er wusste, war, dass er ziemlich genau da war, wo er immer sein wollte - wenn auch unter etwas anderen Umständen - und er im Moment keine weiteren Gedanken an die Zukunft verschwenden wollte. Aber was, wenn die Zukunft dir das gibt, was du jetzt noch vermisst? Die Frage löste die Starre um seine Gedanken, und zum ersten Mal, seit diese ganze wahnsinnige Aktion gestartet hatte, wurde ihm wirklich klar, was sie beide hier taten. "Chris?" Verdammt, warum brachte er auf nicht einmal dieses simple Wort anständig heraus? Vin schluckte einige Male und versuchte, seinen völlig ausgetrockneten Mund dazu zu bringen, die Frage zu stellen, die ihm schon seit einiger Zeit auf der Seele lag. Mit einiger Anstrengung schaffte er es sogar, Chris' Blick zu begegnen. Er fand dort Freundschaft, Wärme.. und noch etwas Anderes, das er nicht genau identifizieren konnte. Fast wie von selbst streckte er eine Hand aus und berührte Chris damit sanft an der Wange, die gleiche Geste, die Chris vorhin unterdrückt hatte. Wie stellte man eine Frage wie diese? Dass sie beide das selbe wollten, war mittlerweile klar, jetzt war nur noch wichtig, sich über die Einzelheiten klar zu werden. Und dazu musste er irgendwie den Mut finden, die Frage zu stellen. Seine Finger strichen sachte über Chris' Wange; der andere Mann legte den Kopf schief, um die Berührung zu vertiefen. Definitiv interessiert. Zum Teufel damit! "Hast du das schon einmal getan?" Unbewusst hielt Vin den Atem an, von Chris' Antwort hing jetzt alles ab. Tief in seinem Inneren glaubte Vin zwar nicht daran, aber trotzdem...
Part 5 "Was denkst du?" Beantworte eine Frage mit einer Gegenfrage und treibe deinen Gegner damit in den Wahnsinn. Für jemanden, der mit derart wenig Worten auskam, konnte Chris verdammt gut mit ihnen umgehen. "Es ist nicht wichtig, was ich denke. Ich will eine Antwort. Eine klare." Schon besser. "Und was wäre, wenn nicht?" "Ist das deine Antwort?" "Möglich." Mit einem leisen Seufzen vergrub Vin sein Gesicht im Polster unter ihm. "Du weißt, Chris", begann er schließlich, "dass wir von hier nicht weiterkommen, bevor ich keine Antwort habe, oder?" Für einige Momente folgte keine Antwort. "Und was ist mit dir?", fragte Chris schließlich. Vin zuckte kurz mit den Schultern, sah aber immer noch nicht auf. Ein möglich lag ihm auf der Zunge, doch er entschied sich im letzten Moment dagegen. Besser, es endlich hinter sich zu bringen. "Ja." Blieb jetzt nur noch die Frage, wie Chris es aufnahm - trotz aller Bereitschaft, die er vorhin an den Tag gelegt zu haben schien, blieb da noch immer dieser Rest von Unsicherheit, eine Chance, für die wohl nicht einmal Ezra einen Einsatz gewagt hätte. Vergiss' Sarah und den Jungen nicht, flüstere die selbe Stimme, die ihm seit Monaten erfolgreich einredete, dass er es gleich gar nicht zu versuchen brauchte, in seinem Kopf. Chris' Antwort folgte nicht sofort, stattdessen spürte Vin, wie eine Hand langsam wieder über seinen Rücken strich. Eine leichte Berührung, fast zu leicht, um wahrgenommen zu werden und höchstwahrscheinlich war sich Chris ihrer nicht einmal bewusst. "Zweimal", sagte er nach einigen Minuten, als Vin die Hoffnung auf eine Antwort schon fast aufgegeben hatte. "Vor Ewigkeiten." Die Worte waren fast zu leise, um gehört zu werden - deutliches Anzeichen dafür, wie schwer es Chris fiel sie auszusprechen. Mehr als erwartet. Viel mehr. Blieb noch eine weitere Frage offen, aber eine, die er unmöglich stellen konnte. Nicht in dieser Zeit, nicht in dieser Kultur. Egal, sie hatten es bis hierher geschafft, jetzt gab es kein Zurück mehr. Langsam rollte Vin sich zur Seite und wollte sich aufsetzen, als er von Chris sachte zurückgedrückt wurde. Nein, teilte er mit einem Kopfschütteln mit. Bleib liegen. Neugierig und noch immer unsicher gehorchte Vin. Auf was genau wollte Chris hinaus? Er wusste noch immer nicht, was Chris vorhatte, als der andere Mann sich neben ihm hinlegte. Chris stütze seinen Kopf auf eine Hand und beobachtete Vin einfach nur - etwas, das Vin nervös machte. Er hasste es, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und erst recht, wenn er halbnackt im Bett seines besten Freundes lag. Das Wissen, dass er in dieser Einöde mit Abstand das Interessanteste weit und breit war, half ihm auch nicht gerade dabei, seine Nerven zu beruhigen, im Gegenteil. Und dazu noch dieser seltsame Blick, mit dem Chris ihn beobachtete, musterte... als ob er Vin noch nie gesehen hätte und sich gerade einen ersten Eindruck verschaffte. Vielleicht tut er das ja. Eine neue Meinung - jetzt, nachdem du zugegeben hast, dass du es auch mit Männern treibst. Und hatte Chris' vorherige Aussage, bereits früher mit Männern Sex gehabt zu haben, nicht etwas sehr zurückhaltend geklungen? Was, wenn er es nur gesagt hatte, um Vin zu beruhigen? "Vin?" Chris sagte das Wort sanft, fast ohne Stimme, und als darauf keine Reaktion folgte, berührte er Vin leicht an der Wange. "Es ist nicht das erste Mal, glaub' mir." Er kann Gedanken lesen, kein Zweifel! Ihm wurde erst bewusst, dass er den Gedanken laut ausgesprochen hatte, als er Chris' leises Lachen hörte. "Noch nicht, Vin. Noch nicht." Der Humor verschwand aus Chris' Stimme, und er sah Vin prüfend an. "Bist du dir sicher?", fragte er schließlich. "Ja." Seine Antwort klang zwar bei Weitem nicht so selbstsicher wie er gerne gehabt hätte, doch sie musste reichen. "Öfter als ein- oder zweimal", fügte er leise hinzu, als Chris nicht merklich reagierte. Keiner der beiden redete anschließend; für einige Minuten sahen sie einander nur an, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. "Wenn wir so weitermachen ist die Nacht um, bevor etwas passiert ist." Chris erntete für seinen Kommentar nicht mehr als ein leichtes Grinsen und ein leises "Und wäre das so schlimm?" "Nicht, wenn du morgen Abend wieder hier wärst." "Einverstanden. Ich glaube sowieso nicht, dass..." Er bekam keine Gelegenheit mehr, den Satz zu vollenden - Chris' Finger auf seinen Lippen verboten es. "Glaub es besser." Vin wollte darauf antworten, doch Chris' nächste Aktion - so erwünscht sie auch war - überraschte ihn derart, dass sich alles, was nicht unmittelbar mit Instinkt zu tun hatte, aus seinem Kopf verschwand. Chris' Lippen auf seinen, eine leichte Berührung, zärtlicher als er sie jemals erlebt hatte. War es immer so, wenn man jemand wirklich liebte und nicht nur seine Triebe mit irgendjemanden auslebte? Vin hoffte, es jetzt endlich feststellen zu können. Es dauerte einen Moment, bis der erste Schock nachließ und er klar genug denken und die Initiative übernehmen konnte. Nicht, dass es ihn störte, dass Chris den ersten Schritt getan hatte, Gott nein, doch jetzt konnte er endlich den Teil von Chris Larabee kennen lernen, der ihm bisher verwehrt geblieben war - seinen Körper. Nachdem er so gut wie alles Wichtige über Chris' Vergangenheit wusste, war das hier das letzte Stück des Puzzles, das er lange Zeit gesucht hatte - nur, um es dann durch Zufall zu finden. Fast wie von selbst fanden seine Finger ihren Weg in Chris' Haar und hielten die widerspenstigen blonden Strähnen einerseits aus dem Weg, andererseits benutzte er die Geste dafür, Chris' Kopf festzuhalten und ihre Lippen noch fester gegeneinander zu pressen. Erst, als der Drang zu atmen zu stark wurde, ließ er Chris wieder los. "Ich habe zulange darauf gewartet", erwiderte er auf Chris' fragenden Blick hin. Zu seiner Erleichterung erhielt er als Antwort bloß ein verständnisvolles Lächeln. "Du solltest das öfters tun." "Was? Dich küssen? Lässt sich einrichten." "Nein." Vin schüttelte den Kopf. "Das meinte ich nicht. Du solltest öfters lächeln - steht dir gut. Siehst du?", meinte er leise, als Chris wieder leicht lächelte. Chris wirkte um Jahre jünger und auch der teils verbitterte, teils wütende Ausdruck verschwand aus seinen Augen und gewährte Vin einen Blick auf den Mann, den er wohl vor zehn Jahren kennen gelernt hätte. "Du hast es verdient." Die Worte waren zwar nur als Gedanken gedacht, doch als sie gesprochen waren, bereute Vin sie nicht. "Du hast es verdient", wiederholte er, als er Chris' skeptischen Blick bemerkte. "Mehr als die meisten anderen." "Vin..." Chris wandte den Blick ab - ob er ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte oder es nicht wollte, konnte Vin unmöglich feststellen. "Pssst, nicht denken, einfach nur fühlen, okay?" Vin wartete erst gar keine Bestätigung ab, sondern zog Chris einfach näher an sich heran und schlang beide Arme um seine Taille. "Lass' los", flüsterte er. "Lass dich einfach gehen, ich lass dich weder fallen noch alleine." Er hoffe zwar, dass Chris ihm glaubte und folgte, erlaubte sich aber erst, erleichtert aufzuatmen, als er spürte, wie Chris seinen Kopf auf seine Schulter legte und ihn leicht umarmte. "Ich bin da." Er wusste nicht, wie lange sie in dieser Position blieben und sich gegenseitig einfach nur hielten - jeder gleichzeitig Stütze wie auch der Gestützte. Und keiner fand es ungewöhnlich, sich in der Gegenwart des jeweils anderen derart gehen zu lassen. "Wir müssen nicht...", wiederholte Vin sanft, als Chris sich langsam von ihm löste. Instinktiv wusste er, worauf Chris hinaus wollte. "Willst du etwa nicht?" Die Herausforderung stand Chris regelrecht ins Gesicht geschrieben. "Wenn ich nein sage, würde ich lügen. Aber ich kann warten - und das ist keine Lüge." "Ich aber nicht." Um jeden weiteren Protest bereits im Keim zu ersticken, beugte Chris sich abermals vor und küsste Vin - diesmal mit etwas mehr Gewalt, aber noch immer um ein vieles sanfter und zärtlicher als die Wenigen, die es zuvor getan hatten. Und das hier was das erste Mal, dass auch Vin es voll genießen konnte... früher war ein Kuss immer nur ein notwendiges Übel gewesen, wenn seine Partner darauf bestanden hatten. Außer vielleicht Charlotte... aber was genau er mit ihr gehabt hatte, konnte er bis heute nicht feststellen. Aber das hier? Vin hatte keine Ahnung, aber wenn das hier nicht Liebe war, wollte er sie gar nicht erst kennen lernen - sie konnte nicht mehr besser sein. "Chris", versuchte er es noch einmal, nachdem sich seine Lippen widerwillig von denen des anderen Mannes gelöst hatten. "Nicht..." "Was? Das hier? Warum nicht?" Ja, warum? Weil es falsch war? Nein, Vin dachte nicht in den selben Bahnen wie die meisten Menschen. Was er allerdings als falsch empfand, war diese ganze Situation hier. Chris war verletzt und litt noch immer unter leichtem Fieber - und obwohl Chris es war, der sie beide in diese Richtung gelenkt hatte, blieb immer noch ein Rest von Zweifel, ob er, Vin, die Situation nicht einfach ausnutzte, um seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. "Nein", wiederholte er, diesmal schon etwas lauter. "Nicht so." Er hasste sich selbst für die Worte, während er gleichzeitig wusste, dass es die einzig richtigen waren. Der verletzte und enttäuschte Ausdruck in Chris' Augen half ihm auch nicht dabei, sich besser zu fühlen - im Gegenteil. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, welche Gedanken Chris jetzt durch den Kopf gehen mussten, und kein einziger davon war angenehm. Trotzdem brachte er keine weiteren Worte über die Lippen, schaffte es nicht einmal, seine Handlungen sich selbst gegenüber zu rechtfertigen. "Warum?" Diesmal kam die Frage schon mit etwas mehr Nachdruck, doch Vin konnte einfach nur den Kopf schütteln. Nicht richtig. Nicht so. Wenn er doch nur einen Weg wüsste, um Chris das klarzumachen... Jeder andere hätte ihn mittlerweile vermutlich damit erpresst, dass er es offensichtlich auch wollte. Nicht so Chris. Chris spürte, dass irgendetwas nicht passte, und gab ihm die Zeit, sich damit auseinander zusetzen - doch Vin war nicht naiv genug, um zu glauben, dass Larabee ihn dann einfach sang- und klanglos gehen lassen würde. Nie ihm Leben. Entweder fiel ihm auf der Stelle ein wirklich guter Grund ein, sofort zu verschwinden, oder aber er folgte einfach dem Weg, auf den Chris ihn geführt hatte. Eine Entscheidung, die keine Entscheidung war. Ein leichtes Lächeln von Chris sowie eine sanfte Berührung an seiner Wange verrieten Vin seine Entscheidung, noch bevor er sich ihrer bewusst war. Er erwiderte das Lächeln und lehnte sich in die Berührung - doch ein Rest von Unsicherheit blieb. Was wenn... "Keine weiteren Gedanken, verstanden? Einfach nur fühlen..." Es war ein seltsames Gefühl, seine eigenen Worte wieder zurück zu bekommen, doch erst jetzt wurde Vin sich ihrer Bedeutung vollkommen bewusst. Hier ging es nicht nur um Chris' Unsicherheit, seine Unfähigkeit, loszulassen - nein, es ging genauso auch um ihn, Vin. Um seine Unsicherheit und Unfähigkeit, sich selbst gehen zu lassen. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wer von ihnen heute Nacht dieses Verhaltensmuster durchbrechen würde... Wer von ihnen beiden würde sich dem anderen ergeben? Vin hatte noch nie ein Problem damit gehabt, den eher passiven Platz einzunehmen, doch das hier war anders. Hier ging es um Chris, verdammt noch mal! Einerseits schrie es in Vin danach, über seinen eigenen Schatten zu springen, andererseits konnte er nicht abstreiten, dass ein Teil von ihm von der bloßen Vorstellung, Chris unter sich zu haben, mehr als angetan war. Zum Teufel damit, das war es doch, was er seit Ewigkeiten wollte, oder etwa nicht? Dass Chris sich endlich einmal gehen ließ und Vin dafür sorgen konnte, dass er nicht noch einmal so verletzt wurde, wie schon so oft zuvor. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass Chris dazu bereit war - höchstwahrscheinlich würde es genau umgekehrt ablaufen. Vin hatte zwar auch gegen diese Variante nichts einzuwenden, Tatsache blieb jedoch, dass es nicht genau das war, was er wollte. Er wollte nicht wieder in dieselbe verdammte Rolle fallen wie in jedes Mal zuvor! Er wollte endlich wissen, wie es von der anderen Seite aus wahr... und er hatte den Verdacht, dass es Chris nicht viel anders ging - jedoch in umgekehrten Rollen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Chris es einem der zwei Männer erlaubt hatte, derartige Macht über ihn auszuüben... Für einen Moment fragte Vin sich, wer diese Männer wohl gewesen sein mochten und was sie an sich gehabt hatten, das Chris dazu veranlasst hatte, mit ihnen zu schlafen, doch er verbannte die Frage fast sofort wieder aus seinem Kopf. Das war Vergangenheit und hier und heute ging es rein nur um die Zukunft. Um ihre Zukunft. Falls so etwas nach der heutigen Nacht überhaupt noch existieren würde und er nicht von Anfang an viel zu viel in das alles hier hineingelesen hatte. "Einfach nur fühlen...", wiederholte er leise. "Unmöglich. Ist nichts 'einfaches' an meinen Gefühlen für dich." Es fiel ihm schwer, überhaupt Worte zu finden, und er konnte nur hoffen, dass es die richtigen waren. Ein leises Seufzen war Chris' einzige Reaktion auf seine Worte. Etwas beunruhigt zwang Vin sich dazu, seinen Blick auf das Gesicht des anderen Mannes zu lenken - nicht, dass er dort etwas gesehen hätte, was ihm geholfen hätte, die Situation besser einschätzen zu können. "Was ist?" Er spürte, dass hinter dem leisen Geräusch weitaus mehr steckte, als oberflächlich zu sehen war, doch Vin wusste absolut nicht was. "Für Gefühle bin ich der falsche Mann." Noch bevor Vin darauf etwas erwidern konnte, sprach Chris weiter: "Sex und am nächsten Morgen wie gewohnt weitermachen? Ja. Sex und sich danach nie wieder sehen.? Sicher, gerne. Aber Gefühle? Nein... nicht mehr." Die beiden letzten Worte waren wesentlich leiser gesprochen, und man musste kein Genie sein, um die Bedeutung dahinter zu verstehen. Chris hatte Angst. Eine Angst, die Vin nur zu gut verstehen konnte und von der er wusste, dass er gegen sie machtlos war. Wie konnte irgendwer jemanden, der schon einmal alles in seinem Leben verloren hatte, versichern, dass es nicht wieder passieren konnte? Vin selbst wusste nur zu gut, dass die gesamte Welt eines Menschen von einer Sekunde auf die andere völlig in sich zusammenbrechen oder - wie in Chris' Fall - in Flammen aufgehen konnte. Und wer war er schon, dass er Chris die Sicherheit geben konnte, dass es nicht wieder passieren würde? Er, Vin Tanner, auf den ein beachtliches Kopfgeld ausgesetzt war und der sich schon in den Jahren davor mehr als genug Feinde gemacht hatte, um ihn zehnmal in ein frühes Grab zu bringen. "Gibt keine Garantien, Cowboy." "Ich weiß." Für einen Moment verfinsterte sich Chris' Gesicht, doch dann schien er sich wieder zu entspannen. "Sarah hat immer gesagt, man soll in der Gegenwart leben und sich um die Zukunft keine allzu großen Gedanken machen - sie tut ohnehin, was sie will und wann sie es will. Vielleicht sollte ich mir ihren Rat zu Herzen nehmen." Das Vertrauen, das Chris mit dieser Aussage bewies, erwischte Vin unvorbereitet. Er fragte sich, ob Chris sich dessen bewusst war, dass er heute bereits zum zweiten Mal von seiner Frau gesprochen hatte, ohne in seine altvertraute Depression zu verfallen. Vermutlich nicht. "Ein guter Rat", stimmte er schließlich zu. "Ich habe zwar keine Ahnung, wie lange unsere Zukunft dauert - aber ich habe vor, das Beste daraus zu machen." "Es ist besser, es nicht zu wissen." Die absolute Sicherheit in Chris' Stimme hätte wohl jeden außer Vin überrascht, der darauf bloß leicht nickte. Die Zeit der Worte war vorbei, und sie beide wussten es. Chris war der erste, der reagierte und sich langsam wieder vorbeugte - nur um auf halben Weg von Vin getroffen zu werden. Zum dritten Mal küssten sie sich, und diesmal lag schon ein deutlich drängender Unterton in der Geste. Bei beiden war es schon einige Zeit her; dementsprechend groß war jetzt die Ungeduld. Vin versuchte gerade, die richtigen Worte für die Frage, die ihn schon seit Ewigkeiten quälte, zu finden, als eine simple Geste von Chris sie überflüssig machte. Mit einer schnellen, anmutigen Bewegung ließ Chris sich zurückfallen und zog Vin dabei mit. Falls ihm die abrupte Bewegung Schmerzen bereitet hatte, ließ er sich nichts anmerken und Vin war im Moment von dem Anblick, der sich ihm bot, viel zu abgelenkt, um sich darüber Sorgen zu machen. Ein Lächeln, ein leichtes Nicken, ein Blick und Vin war klar, dass Chris ihn auch ohne Worte verstand und einverstanden war. Wann genau hatte er eigentlich die wirkliche Welt verlassen, um ihn seiner ganz persönlichen Traumwelt zu landen?!
Part 6 Fast wie von selbst bewegten sich seine Hände und erkundeten langsam Chris Körper - erst die Schultern, dann die Brust, bevor er sich schließlich wieder dem Gesicht zuwandte. Vin wusste nicht, was genau es war, das Chris derart attraktiv für ihn machte und ihm Moment verschwendete er auch keinen Gedanken daran. Sanft strichen seine Finger über Chris' Wangen und Lippen; noch immer konnte er kaum glauben, dass es wirklich so weit gekommen war. Ich liebe dich. Noch waren diese drei Worte bloße Gedanken, doch Vin hoffte, sie bald auch aussprechen zu können. Eigentlich ein Wunder, dass Chris anscheinend noch nie etwas von seinen Gefühlen mitbekommen hatte, angesichts des manchmal geradezu unheimlichen Talents des Mannes, ihn zu durchschauen. Oder hatte Chris vielleicht etwas gesehen und es einfach nicht richtig deuten können? "Augen zu", befahl er sanft. Chris warf ihm einen leicht überraschten Blick zu, gehorchte jedoch fast sofort. "Und kein Wort", fügte er hinzu, als Chris etwas sagen wollte. Er selbst verzichtete ab hier auch auf Worte, jedoch nicht auf seine Sehfähigkeit; viel zu verlockend und erregend war der Anblick, der sich ihm bot. Worte, Komplimente bildeten sich in seinem Kopf, doch er sprach kein einziges davon aus - er hatte keine Ahnung, wie Chris darauf reagieren würde, und jetzt, wo er endlich soweit gekommen war, wollte er es nicht mehr durch Worte riskieren. Chris hätte ihn vermutlich ausgelacht, wenn er ihm gesagt hätte, für wie schön er ihn hielt... Perfekt? Nein, das war unmöglich. Aber so nahe dran wie nur irgend wie möglich. Jede einzelne Narbe zeichnete sich deutlich von der hellen, um etliches heller als Vins, Haut ab. Trotz aller Muskeln war Chris' Körperbau schlank und gab den falschen Eindruck, dass er leicht zu brechen war - ein Fehler, den selbst in der relativ kurzen Zeit, die Vin ihn kannte, schon einige Menschen begangen und teuer dafür bezahlt hatten. Physische Gewalt machte Chris nichts aus; es waren die Angriffe auf emotionaler und seelischer Ebene, wie Ella Gaines und der Warden in Jericho sie gestartet hatten, die ihn fast über den Rand des Abgrundes, an dem er seit dem Tod seiner Familie wandelte, gebracht hatten. Vin machte sich keine Illusionen, er wusste, wie leicht er Chris durch einen solchen oder ähnlichen Vorfall verlieren konnte - die Tage und Wochen nach ihrer Rückkehr aus Jericho sprachen ihre eigene Sprache. Vin würde es nie mehr vergessen, Chris völlig hilflos und ohne seine üblichen Schutzschilde gegen die Gewalt des Lebens zu sehen - genauso wie er auch wusste, dass Nathan sich damals weitaus mehr Sorgen um Chris' geistige Verfassung als seinen körperlichen Zustand gemacht hatte. Diese und mehr Gedanken schossen in kürzester Zeit durch Vins Kopf, noch bevor er sie überhaupt richtig wahrnehmen konnte, waren sie auch schon wieder verschwunden. Zurück blieb der atemberaubenden Anblick vor ihm, der sich auf ewig in sein Gedächtnis einbrannte. Einem plötzlichen Impuls nachgebend lehnte er sich nach vorne und legte seinen Kopf auf Chris' Brust, direkt über dem Herzen. Das stetige, wenn auch etwas zu schnelle Pochen beruhigte ihn und fast von alleine schlossen sich seine Augen. Es kam als Überraschung, als Chris' Arme sich um Vin legten und mit sanftem Druck noch etwas näher an sich pressten. Ein kurzer Blick verriet Vin, dass Chris seine Augen ebenfalls geschlossen hatte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. So wunderschön... Ohne seinen Kopf zu bewegen tastete Vin sich mit einer Hand weiter nach oben, über Chris' Hals, Kinn und Nase bis hin zur Stirn. Etwas warm, aber nicht warm genug, um wirklich Fieber zu sein. Was jetzt? Vor zwei Minuten wäre die Antwort darauf noch eindeutig gewesen, doch jetzt? Die intime Haltung, die ihm erlaubte, Chris' Atmung und Herzschlag mitzuerleben, war fast zu komfortabel, um aufgegeben zu werden. Mit einiger Überraschung stellte Vin fest, dass selbst die Erektion, die ihn seit einiger Zeit gequälte hatte, so gut wie verschwunden war - so gut wie, aber nicht ganz. Er blieb noch einige Zeit ruhig liegen, bevor er sich langsam aufsetzte und neben Chris' Oberkörper in die Knie ging. "Chris..." Ein leichtes Nicken war die stumme Antwort auf die ungestellte Frage. "Okay." Vin lächelte leicht. "Auf der Seite, ist besser." Vor allem, wenn er Chris' Verletzung bedachte - das letzte, was sie jetzt brauchten, war, die Wunde wieder erneut aufzureißen. "Und ganz ruhig." Jeder andere hätte vermutlich nichts bemerkt, doch für Vin waren die kaum wahrnehmbaren Zeichen für Chris' Nervosität nicht übersehen. Vin verstand nur zu gut, er wollte sich nicht ausmalen, wie er sich in diesem Moment fühlen würde, wären ihre Rollen vertauscht. Die Haltung auf der Seite hatte außerdem noch einen anderen Vorteil - er konnte Chris zuerst einfach halten und die Dinge von dort aus langsam angehen. Und so sehr sein Körper mittlerweile auch gegen "ruhig und langsam" protestierte; er würde erst weitergehen, wenn er sicher war, dass auch Chris dazu bereit war.
Es dauerte nur einen Moment bis Chris sich auf seine linke Seite gedreht hatte und kurz darauf spürte er, wie Vin sich dicht an seinen Rücken presste. War er nervös? Oh ja, und wie. Doch er spürte, wie die Anspannung und die Angst langsam verschwand, als Vin nichts weiter tat, als seine einen Arm um Chris' Taille zu legen und die andere in seinem Haar zu vergraben. Nichts, was er auch nicht schon mit Sarah gehabt hatte - auch wenn das hier in keinster Weise mit seiner Ehe zu vergleichen war. Genauso wenig, wie es auch nicht im Entferntesten mit irgendeiner seiner - zugegebenermaßen sehr beschränkten - Erfahrung mit anderen Männern zu tun hatte. Diese wenige Male hatten im Dunkel der Nacht stattgefunden, ohne Worte, ohne sanfte Berührungen - ohne Küsse -, waren schnell und an der Grenze zu brutal gewesen. Chris hatte nicht gelogen - es waren aber wirklich nur zwei Mal gewesen, in denen er mit anderen Männern geschlafen hatte. Einmal für jede Position - und keine der beiden Erinnerungen war eine wirklich gute; doch das eine Mal, an dem er - wiederwillig aber im Endeffekt doch freiwillig - auf dem Boden unter einem Fremden gelandet war, war definitiv einer jeder Erinnerungen, die er, so gut es ging, in seinem Unterbewusstsein vergraben hatte. Verdammt ja, damals hatte er es gewollt, damals hatte es ihm nichts ausgemacht, dass er sich am nächsten Tag kaum von der Stelle rühren konnte - allerdings hatte er sich an jenem Tag auch geschworen, dass er, sollte er jemals wieder in eine solche oder ähnliche Situation kommen, sich niemals mehr ergeben würde. Wenige Wochen später hatte er Sarah kennen gelernt und jenes Versprechen sich selbst gegenüber wurde gegenstandslos; immerhin hatte er fest damit gerechnet, den Rest seines Lebens mit dieser wundervollen Frau an seiner Seite zu verbringen. Später, nach dem Feuer, bevor er sein Leben wieder für sich entdeckte, hatte er so gut wie keinerlei Bedürfnisse in dieser Richtung gehabt - und die wenigen Male, bei denen er Gesellschaft im Bett wollte, waren immer Frauen zur Verfügung gestanden. Heute war das erste Mal seit fast zwanzig Jahren, dass er überhaupt wieder darüber nachdachte, mit einem anderen Mann zu schlafen... und trotz seines damaligen Schwurs und der alles andere als guten Erinnerungen war er sich sicher, dass er Vin vertrauen konnte und es diesmal auf keinen Fall so enden würde wie damals. Vins bisheriges Verhalten, die sanften Berührungen und die einerseits unerwartete, bei genauerer Betrachtung aber doch so natürliche Zärtlichkeit Vins machten Chris klar, dass er nichts zu befürchten hatte - genauso, wie er auch wusste, dass Vin die ganze Sache sofort abbrechen würde, wenn Chris es verlangte. Ein Sicherheitsnetz, ohne das Chris - trotz allen Vertrauens - von hier aus nicht weiter gegangen wäre.
Vin lächelte leicht, als Chris leise seufzte, sich weiter entspannte und schließlich dichter an ihn presste. Er musste Chris' Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wie Chris sich jetzt fühlte - verdammt gut, wenn die vergangene halbe Stunde für ihn nur halb so befriedigend wie für Vin selbst gewesen war. Die ganze Situation war neu und auch etwas beängstigend für ihn - nicht nur das erste Mal, dass er mit jemanden geschlafen hatte, der ihm wirklich etwas bedeutete und den er nicht nie wieder sehen würde, sondern auch das erste Mal, dass er danach mit derjenigen Person zusammen im Bett lag, mit dem unsicheren Versprechen, dass da vielleicht noch mehr war als nur einmal. Leere Hoffnungen, versuchte er sich einzureden - ohne Erfolg. Er hatte geglaubt - nein gehofft, aber gewusst, dass es nicht der Fall sein würde - genau das mit Charlotte zu finden, obwohl er die ganze Zeit über gespürt hatte, dass es zwischen ihnen beiden nie viel mehr als eine ungemütliche Nacht im Freien geben würde. Brasilien. Wie dumm war er eigentlich gewesen, als er mit ihr verschwunden war und für sie seine Freunde - Chris - ohne weiteren Gedanken der Gefahr überlassen hatte? Nein, nicht ohne weitere Gedanken. Um ehrlich zu sein, hatte er in der ganzen Zeit, die er mit Charlotte verbracht hatte, an nichts anderes als Chris und die restlichen fünf gedacht... und heimlich nach einem plausibel klingenden Grund gesucht, wieder zurückgehen zu können. Dorthin, wo er wirklich hin wollte. Dorthin, wo er hingehörte. Vin hielt sich im Allgemeinen für einen geduldigen Menschen, und diesmal hatte seine Geduld sich wirklich ausgezahlt... wenn schon nicht mehr, hatte sie ihm immerhin eine Nacht mit Chris beschert. "Schon wieder große Gedanken?" Chris' Stimme klang schläfrig und zufrieden. "Hmm", war seine Antwort, zu mehr war er im Moment einfach nicht in der Lage. "Wird eine ungute Angewohnheit von dir." "Dann halt mich davon ab." "Und wie?" Chris konnte Vins Grinsen nicht sehen, daher traf die Antwort in völlig unvorbereitet. "Ich finde, du hast heute Nacht verdammt gute Arbeit darin geleistet." Zu seiner Überraschung verspannte Chris sich fast augenblicklich und versuchte, sich aus Vins Umarmung zu befreien - was Vin jedoch nicht zuließ. Im Gegenteil: Er hielt Chris nur noch fester an sich gepresst. "Vor was hast du Angst, Chris?", flüsterte er. Meinen Gefühlen. Chris sprach kein Wort, trotzdem hallte die Antwort auf Vins Frage derart laut im Raum wider, als ob Chris sie geschrieen hätte. "Sarahs Rat schon wieder vergessen?" Die Frage ging unter die Gürtellinie, und Vin wusste das auch - was ihn aber nicht davon abhielt, sie zu stellen. Verdammt, er wollte das hier, mehr als alles andere, und er würde nicht aufgeben, bevor er es hatte - oder er eine definitive Abfuhr von Chris erhalten hatte. Aber bisher war Chris nur unsicher, in welche Richtung er gehen solle - alles, was er brauchte, war ein Stoß in die richtige Richtung... und Vin war fest dazu entschlossen, Larabee notfalls in die richtige Richtung zu prügeln, koste es, was es wolle. Er erhielt seine Antwort nicht in Worten, doch die Tatsache, dass Chris sich wieder in seiner Umarmung entspannte und seine Atmung sich wieder beruhigte, war für den Moment genug. "Ich hatte unrecht", murmelte Chris nach einigen Minuten, als Vin schon fast geglaubt hatte, er wäre wieder eingeschlafen. "Womit?" "Zu glauben, dass ich ohne Gefühle überleben kann." Wie reagierte man auf eine solche Aussage, noch dazu von einem Mann wie Chris Larabee? Das Eingeständnis war zu wichtig, um einfach abgetan zu werden, und Vin wusste, dass er etwas - irgendetwas - darauf erwidern musste. Aber was? "Ein Ding der Unmöglichkeit." Soviel wusste Vin, immerhin hatte er selbst jahrelang versucht, seine Gefühle zu vergraben - wenn auch nicht in dem Ausmaß oder gar dem Erfolg wie Chris. Wobei Erfolg relativ zu werten war. "Ja. Das sehe ich jetzt auch." Chris drehte sich so, dass er Vin direkt ins Gesicht sehen konnte, auch wenn dank der Dunkelheit fast nichts zu erkennen war. "Ich war schon immer langsam in solchen Dingen." "Ich weiß nicht... ich finde, du bist ein schneller Lerner." Der Kommentar hatte den gewünschten Erfolg; Chris ernsthafte Stimmung verschwand wieder und wurde durch etwas wesentlich Besseres ersetzt. Innere Ruhe. "Hmm... findest du also?" Noch während Chris sprach, bahnte sich eine Hand ihren Weg langsam über Vins Oberkörper und Bauch, bis sie schließlich quer über seinem Unterleib zu liegen kam. "Bist du der Typ dafür?" Mit einem Schlag war die Ernsthaftigkeit zurück und Vin konnte sich ein leichtes, frustriertes Seufzen nicht verkneifen. "Typ wofür?" Er bemühte sich, nicht sonderlich, aber immerhin, den genervten Ton aus seiner Stimme zu halten - vergeblich. Er spürte Chris' Schulterzucken mehr, als dass er es sah. "Das hier. Einfach nur beisammen sein..." Das meinte Chris. Mit einem Mal verstand Vin. "Ja", sagte er. "Sehr sogar." Er lächelte leicht, als Chris seinen Kopf auf Vins Brust legte und damit fast dieselbe Haltung einnahm, wie Vin vorhin. Es war neu, ungewohnt... aber definitiv etwas, an das er sich gewöhnen konnte und wollte. Wenn es das war, was Chris mit Sarah gehabt und dann verloren hatte... Vin wollte nicht weiter darüber nachdenken, aber sein Respekt für Chris wuchs ein Stück - er war sich nicht sicher, ob er an Chris' Stelle dieses Risiko noch einmal eingehen würde. Falls er es noch einmal eingehen will. "Chris?" "Hmm?" Die Worte fehlten Vin, wie auch schon zuvor. Er wollte mehr, wollte, dass das hier auf Dauer war und hatte das auch klargemacht - doch von Chris' Seite war noch nichts in dieser Richtung gekommen; genauso wenig hatte er jedoch gesagt, dass das hier nur eine einmalige Angelegenheit war. Vin hasste Unsicherheiten, in seinem Leben gab es viel zu viele davon. "Wo stehen wir jetzt?"
Wo stehen wir jetzt? Chris wiederholte die Frage in Gedanken mehrmals, während er über eine Antwort nachdachte. Ihm war klar, was Vin wollte - was er jedoch nicht wusste, war, was er selbst wollte. Nein, eigentlich stimmte das nicht - er wusste, was er wollte, jedoch nicht, ob er dazu bereit war, das Risiko einzugehen. Er hatte schon einmal darin versagt, die, die ihm wichtig waren zu schützen - was, wenn es wieder passierte? "Chris?" Vin wollte eine Antwort; nicht, dass Chris es ihm verübeln konnte. Und ein Gedanke, den er schon früher gehabt, aber wieder verdrängt hatte, fiel ihm wieder ein. Er musste auf Vin nicht aufpassen wie auf Sarah oder gar Adam... Vin war ein Mann, der sich um sich selbst kümmern konnte - und zwar verdammt gut - und niemanden brauchte, der ihn beschützte... was nicht unbedingt heißen musste, dass derartiger Schutz unerwünscht war. Chris lächelte leicht, als er darin den perfekten Kompromiss sowohl für sich selbst wie auch Vin erkannte - sich gegeneinander schützen, gleichzeitig jedoch noch immer unabhängig sein. "Ich denke, wir sollten das Reden auf morgen verschieben und den Rest der Nacht genießen - es wird für einige Zeit die letzte sein." Chris erinnerte damit an die schon seit drei Tagen überfällige Ankunft von Richter Travis, der endlich über die Insassen der schon seit Wochen überbelegten Zellen des Gefängnisses Urteil sprechen würde. Erst zeichnete sich Verwirrung in Vins Zügen ab, doch als er die gut versteckte Botschaft in Chris' Worten entdeckte, konnte er ein Grinsen nicht verkneifen. Chris lächelte leicht zurück, er war froh, dass er nicht dazu gezwungen war, die Worte auszusprechen, sondern dass Vin sie auch so gehört und - noch wichtiger - verstanden hatte. Diese lautlose Kommunikation, die sie beide zeitweise laufen hatten war - trotz Bucks verzweifelten Protesten, ihnen nicht folgen zu können - verdammt praktisch...
Epilogue Lärm. Weitaus lauter als die üblichen Geräusche des Saloons zu später Stunde, lauter als ein normaler Streit... eine ausgewachsene Schlägerei. "Vin! Pass auf!" Keine Sekunde nach Ezras Schrei ließ Vin sich zur Seite und auf den Boden fallen, dadurch verfehlte der Mann hinter ihm sein Ziel, verlor das Gleichgewicht und stürzte mitsamt dem Sessel, den er seinem Gegner über den Schädel hatte ziehen wollen, zu Boden. Mit einer rein instinktiven Bewegung brachte Vin die Arme des Mannes hinter dessen Rücken zusammen und wollte ihn gerade auf die Beine und in weiterer Folge zum Gefängnis bringen, als plötzlich JDs lautes "Chris!" seine Aufmerksamkeit auf das andere Ende des Raumes lenkte. Verdammt, nein!, war das Einzige, das Vin in den Sinn kam - ob er es bloß gedacht oder mit voller Kraft in die Welt geschrieen hatte, wusste er nicht. Automatisch ließ er den Mann, mit dem er eben noch gekämpft hatte, los und zurück zu Boden fallen - er war unwichtig. Alles war im Moment unwichtig, das Einzige, das wirklich zählte, war Chris, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht konzentriert genug, nicht schnell genug gewesen war und jetzt reglos am Boden lag, während das Holz unter ihm langsam von Blut verdeckt wurde. Ein Messer. Seltsam, irgendwie hatte Vin immer gedacht, dass eine Kugel das Leben von Chris beenden würde, nicht so etwas Primitives wie ein Messer. Mit einigen schnellen Schritten war Vin an Chris' Seite und ging neben ihm in die Knie. Vorsichtig zog er Chris' Hand beiseite, um die Wunde sehen zu können, am Rande seiner Wahrnehmung hörte er JD, der lauthals nach Nathan brüllte. Er war sich fast sicher, dass es umsonst war, als ihn eine plötzlich Berührung an seinem Arm überrascht aufsehen ließ. "Chris?" Fast wie auf Kommando öffneten sich die grünen Augen, und Vin ließ seinen angehaltenen Atem langsam entweichen. Die Wunde war schlimm, ja, aber Chris lebte noch, und das war alles, was im Moment zählte... Chris zuckte leicht zusammen, als Vin sich noch etwas dichter an ihn drückte und dabei die Verletzung erwischte, doch ansonsten reagierte er nicht. Er ahnte - nein wusste - dass es einen Grund dafür gab, dass Vin auf einmal derartige Nähe suchte, und wer war er, dass er sie ihm verwehren konnte? Vorsichtig drehte er seinen Körper so, dass er keine Schmerzen mehr hatte, bevor er beide Arme um Vin legte und die Augen schloss. Zum ersten Mal fühlte es sich nicht so an, als ob er Sarah dadurch verraten würde, sein Bett mit jemand anderen zu teilen - vielleicht ein Zeichen dafür, dass es diesmal die richtige Person war, mit der er schlief. Ein angenehmer Gedanke, der ihn begleitete, als er einschlief.
A
fading night… I feel the light -- Sleep Somehow, Wolfsheim --
|| Fiction || |