Seductive Crime, Part 1
Title: Seductive Crime, Part 1
~ Prolog ~ Leise regnete es vor sich hin. Die Straßen waren naß. Die Dunkelheit zog über die Stadt Denver. Straßenlaternen spendeten den dunklen, leeren Straßen gedämpftes Licht. Man sah kaum seine eigene Hand vor den Augen. Aus den Lokalen drang der schwache Lärm der Musik und der feiernden Menschen, die für einen Abend ihren Alltag vergessen wollten. Vor einer dunklen Gasse standen zwei Männer. Der Kleinere von ihnen blickte immer wieder nervös auf seine Armbanduhr. Ihre Verabredung kam zu spät. Es war zehn nach Mitternacht. „Wo bleibt er nur?“ fragte er unruhig. Der dunkelhaarige Mann neben ihm blickte ihn an. „Keine Sorge, die werden schon noch kommen“, sagte er mit rauchiger Stimme. Simon Belmont strich sich mit seinen Fingern durch das kurze blonde Haar. Ihm war etwas unwohl zumute. Er fühlte sich im Moment nicht besonders wohl in seiner Haut. Vor vier Monaten war der FBI-Agent in die Waffenschieber-Szene eingeschleust worden. Er sollte Informationen und – was viel wichtiger war – ein aussagekräftiges Foto von einem der bedeutendsten Waffenhändler der Welt besorgen. Er selbst nannte sich Desmond Tiger. Und niemand wußte, wie Desmond aussah. Man fand kein einziges Foto in den Akten des FBI, nur Schriftliches. Das bereitete den FBI große Sorgen. Dieser Mann war unberechenbar. Aus diesem Grund hatte man sich entschlossen, Simon in diese Kreise hinein zu schicken, um endlich zu erfahren, wer Desmond wirklich war. Jeder, der an diesen Fall arbeitete, wußte, wie gefährlich die Sache war – vor allem für Simon. Dieser Undercovereinsatz war lebensgefährlich, das war Simon klar, doch Desmond mußte endlich gefaßt werden. Er schauderte leicht. Nachdem er sich mit Rodney Hunter angefreundet hatte, war es endlich soweit. Rodney war ein Unterhändler, der Desmond Tiger gegenüber sehr loyal war. Und nachdem Rodney sich auf eine Freundschaft mit Simon eingelassen hatte, war er der Meinung gewesen, daß dieser endlich Des, wie Rodney seinen Geschäftspartner nannte, kennenlernen sollte. Simon blickte auf, als er einen Wagen näher kommen hörte. Er entdeckte einen schwarzen BMW, der sich ihnen langsam näherte. „Ich sagte doch ... sie kommen“, sprach Rodney neben dem Agenten. Ein kleines, zufriedenes Lächeln huschte über Rodneys Gesicht. „Wieso bist du so nervös?“ fragte er, als er bemerkte, wie angespannt Simon war. „Tja, dem geheimnisvollen Desmond Tiger begegnet man nicht alle Tage“, sprach Simon mit einem erzwungenen Lächeln. „Du wirst dich wundern“, lachte Rodney. Der Agent wollte schon fragen, was Rodney damit meinte. Doch er kam nicht dazu, da der BMW neben ihnen hielt. Der Fahrer stieg aus. „Ihr seid nicht gerade pünktlich“, sagte Rodney. Der Fahrer ignorierte Rodneys Spruch einfach und musterte Simon mit einen scharfen Blick. Nickend nahm er seine Anwesenheit zur Kenntnis. Nun fühlte sich Simon noch unwohler. Langsam bekam er das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Jedoch kam diese Erkenntnis zu spät. In der selben Sekunde packte Rodney ihm am Kragen und drückte ihn auf die Motorhaube. „Mann, was soll das?“ fauchte Simon, darum kämpfend, seine Beherrschung nicht zu verlieren. „Hast du wirklich geglaubt, uns einfach so hintergehen zu können, du mieser, kleiner FBI-Agent?“ Simon schluckte. Seine Tarnung war ganz offensichtlich aufgeflogen. „Du wolltest wissen, wer Desmond Tiger ist“, sprach Rodney. „Er hat beschlossen, dir diesen kleinen Wunsch zu erfüllen, bevor er dich umbringt.“ Darauf schien der Fahrer nur gewartet zu haben. Er öffnete die hintere Wagentür. Aus dem Augenwinkel heraus sah Simon, wie lange Beine elegant aus dem Wagen schwangen und eine Person ausstieg. Überrascht blickte Simon auf die Frau, die neben Rodney auftauchte. Simon konnte es nicht glauben. Das konnte doch nur ein Scherz sein. Desmond Tiger war eine Frau? Bis jetzt waren sie immer davon ausgegangen, daß Tiger ein Mann war. Simon schluckte schwer. Das FBI hatte sich bitter getäuscht. Eine solch schöne Frau sollte ihr Zielobjekt sein? Sie sah doch ... nicht aus wie ein Verbrecher. Simon blickte in ihre meeresblauen Augen. Ihr langes, goldblondes Haar war hoch gesteckt. Sie trug ein kurzes, schwarzes Kleid dazu hochhackige Schuhe. Sie war überaus attraktiv und dessen war sie sich auch bewußt. Diese Frau konnte unmöglich Desmond Tiger sein. „Überrascht?“ fragte die Lady. Simon nickte langsam. „Ich wußte, daß irgendwann ein Agent von euch auftauchen würde, der mir so nahe kommt, das er mir in die Augen schauen kann. Gratuliere! Du bist der Erste, der das geschafft hat. Doch ich hätte niemals gedacht, daß ihr so verdammt nachlässig seid. Ich hätte wirklich mehr vom FBI erwartet. So kann man sich täuschen. Glaubt ihr wirklich, ich bin so leicht zu schnappen? Wirklich dumm“, sprach die Frau, die sich Desmond Tiger nannte, kopfschüttelnd. Sie streckte ihre Hand aus. Ihr Fahrer verstand und reichte ihr eine Waffe, die er aus seiner inneren Jackentasche zog. Simon riß die Augen auf. Er wußte, er würde sterben. „Wenn Sie das tun, wird das gesamte FBI und alle anderen polizeilichen Organisationen Sie jagen. Sie werden keine ruhige Minute mehr haben, das schwöre ich Ihnen“, startete Simon einen letzten, verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten. Doch Desmond lachte kalt. „Simon, du bist nicht der erste FBI-Agent, den ich umbringe oder den ich umbringen lasse“, gestand sie ihm. „Wenn ich dich laufen lasse, erzählst du deinen Leuten, wer ich bin. Und ich will nicht, daß irgend jemand das erfährt. Meine Identität muß ein Geheimnis bleiben. Außerdem habe ich Spaß an diesem kleinen Spiel. Das FBI etwa nicht?“ fragte sie herausfordernd. „Wir finden dieses Spiel, in dem unschuldige Menschen sterben, nicht sehr komisch“, fuhr Simon heftig auf. „Schade“, sprach Desmond, und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Dann macht es eben nur mir Spaß. Du wirst leider keine Möglichkeit mehr haben, irgend jemanden zu erzählen wer ich bin.“ Mit diesen Worten richtete sie die Waffe auf den FBI-Agenten. Simon schluckte schwer. Diese Frau ist kälter als jeder andere Verbrecher, dem ich begegnet bin, dachte er. In der nächsten Sekunde drückte Desmond Tiger ab und tötete den Agenten, ohne mit der Wimper zu zucken. Rodney ließ den Agenten los. Seine Leiche schlug auf den Boden auf und verbreitete eine Blutspur auf der Straße. Desmond reichte die Waffe ihrem Fahrer, der sie ohne einen Kommentar entgegennahm. „Was ist mit ihm?“ fragte Rodney und deutete auf den toten Agenten. Verächtlich blickte Desmond auf die Leiche hinab. „Laß ihn verschwinden – so wie die anderen vor ihm auch“, sprach sie und sie stieg in den Wagen ein. Rodney nickte und blickte dem davonfahrenden Wagen nach. Manchmal erschreckte es sogar ihn, wie kalt Desmond doch war ...
~ 1. ~ Drei Monate später Vin fiel sofort der fremde Wagen ins Auge, der vor dem Bürogebäude von Team Seven stand. Mißtrauisch musterte er den protzigen Mercedes. Sein Gefühl sagte ihm sofort, daß da etwas nicht stimmte. Vin blickte auf seine Uhr. Er hatte sich etwas verspätet, da sein Termin länger gedauert hatte, als er gedacht hatte. Vin war dem Rat seiner Kumpels gefolgt und hatte sich endlich einen modernen Kurzhaarschnitt zugelegt. Nun war er seine schulterlange Mähne endgültig los. Darüber war Vin froh. Die langen Haare waren lästig geworden. Der kurze Schnitt gefiel ihm viel besser. Er betrat das Gebäude und stieg die Stufen in den ersten Stock hoch. „Ich sehe nicht ein, warum wir Ihren Befehlen folgen sollten“, schallte die Stimme von Chris Larabee durch das Treppenhaus. Wir haben also Probleme, dachte Vin, und er stieß die Tür auf. Die Tür zum Besprechungsraum war offen, und Vin steuerte darauf zu. Seine Teamkameraden saßen an dem runden Tisch und verfolgte schweigend den Streit zwischen Chris und ihrem Gast. FBI, schoß es Vin sofort durch den Kopf. „Störe ich?“ fragte Vin, als er den Raum betrat. „Setz dich, Vin“, sprach Chris abweisend, und er wandte sich wieder dem Mann vom FBI zu. „Wir arbeiten schon an einem Fall.“ „Mr. Larabee, dieser Fall hier hat oberste Priorität. Sie werden Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf lenken, haben Sie verstanden?“ „Mein Undercover-Agent kann unmöglich an zwei Fällen gleichzeitig arbeiten“, warf Chris wütend ein. „Was ist denn hier los?“, flüsterte Vin. Buck beugte sich zu ihm und erklärte: „Der Typ ist vom FBI. Sein Name ist Steven Care. Er hat einen neuen Fall für uns, und da diese Anweisung vom FBI kommt, ist Chris nicht gerade glücklich darüber, wie du selbst siehst und hörst.“ „Er haßt das FBI“, murmelte Vin nickend. Buck stimmte ihm zu. „Endlich hast du dir eine moderne Frisur zugelegt“, kommentierte er Vins neuen Haarschnitt. Vin verdrehte die Augen und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Außerdem besteht Ihr Team nicht nur aus Ezra Standish, der ein ausgeliehener Agent von uns ist, wohlgemerkt.“ „Ezra untersteht meinen Befehlen. Wir haben keine Zeit dafür.“ „Sie werden sich darum kümmern oder Sie werden mich kennenlernen, Mr. Larabee“, sprach Steven scharf. Grimmig blickte Chris den Mann an. „Sagen Sie mir einen guten Grund, warum ich mich darum kümmern sollte.“ „Weil Sie gar keine andere Wahl haben. Ihre Karriere steht sowieso auf der Kippe, da Sie Befehlen von oben ja gerne widersprechen oder sie gar ignorieren. Sie sollten vorsichtig sein!“ warnte Steven ihn. „Ihre Vorgesetzten, Mr. Larabee, haben meinem Vorschlag schon zugestimmt. Sie übernehmen den Fall und damit ist die Sache für mich erledigt“, sprach Steven Care, und er drückte Chris ein paar dünne Akten in die Hand. „Das ist alles?“ fragte Chris ungläubig. „Es gibt kaum Informationen über Desmond Tiger. Wir haben keine Ahnung, wie er aussieht.“ „Was? Und wie sollen wir ihn dann überführen?“ fragte Chris bissig. „Lassen Sie sich etwas einfallen, Mr. Larabee. Sie sind doch ein Profi. Jedenfalls behaupten Sie das von sich.“ Steven Care nickte den Leuten von Chris zu und verließ den Raum. Die Tür fiel leise ins Schloß. Wütend schleuderte Chris die Akten auf den Tisch. Einige Seiten fielen heraus und verteilten sich auf dem großen Tisch. Seine Leute hielten den Mund; kannten ihren Chef lange genug, um zu wissen, daß es besser war, ihn jetzt nicht anzusprechen. Geduldig warteten sie. „Dieser arrogante, nichtsnutzige Kerl! Der denkt wohl, wir können zaubern. Wie sollen wir das machen?“ „Chris“, sprach Vin ihn vorsichtig an. „Ja?“ „Worum geht es hier?“ Chris seufzte und ließ sich schwach auf seinen Stuhl fallen. Er lehnte sich zurück und strich sich durchs Haar. „Zwei Undercovereinsätze – parallel zueinander? Wißt ihr, was das bedeutet?“ „Ja, verdammt viel Streß“, warf Buck in die Runde. „Du kannst Ezra nicht einfach aus dem Fall nehmen. Das würde auffallen“, meinte Josiah. „Das ist mir klar. Tja, dann muß ich Vin schicken.“ „Dann würde ich gerne erfahren, worum es geht“, sprach Vin. Ein genervter Seufzer entrang sich Chris‘ Kehle. Nathan steckte die heraus geflogenen Seiten wieder in die Akten zurück, die er seinen Chef ohne ein Wort reichte. „Na gut, wir haben sowieso keine andere Wahl! Also, fangen wir an. Doch ich sage euch gleich ... es wird der schwerste Fall unseres Lebens.“ „Wir hören“, sprach Buck, und er stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab. „Es geht um Desmond Tiger“, sprach Chris, und er beobachtete die Reaktion seiner Leute. Ihre Blicke wurden ernst. Der Name war ihnen allen ein Begriff. „Desmond Tiger? Wir reden hier von DEM Desmond Tiger?“ fragte J.D. nach. Chris nickte. „Ja. Wie ihr gehört habt, hat keiner einer Ahnung, wie er aussieht. Aus den Unterlagen des FBIs entnehme ich, daß sie nur sehr wenige Informationen über ihn haben. Es wird also schwer werden, an ihn ran zu kommen. Das FBI schätzt, daß er zwischen Mitte zwanzig bis Ende dreißig ist. Er scheint ledig zu sein und hat eines der größten Waffengeschäfte auf der ganzen Welt.“ „Das alles sind Vermutungen?“ fragte Vin. „Ja. Es gibt keine wirklichen Beweise. Niemand weiß, wie der Kerl aussieht. Er hat sich ein großes Verbrechersyndikat aufgebaut. Es wird nicht einfach werden, ihn zu entlarven.“ „Und wie sollen wir das anstellen?“ „Nun, Vin, ich würde dich ungern schicken. Du bist nur begrenzt für den Undercovereinsatz zuständig.“ „Das weiß ich selbst“, knurrte Vin. „Ezra, wie lange brauchst du noch für deinen Auftrag? Glaubst du, wir können Rick Fisher, der die Szene mit Sprengstoff versorgt, bald aus dem Verkehr ziehen?“ „Ich gehe davon aus, daß der Fall in zwei Wochen erledigt ist“, antwortete Ezra. Chris nahm dies nickend zur Kenntnis. „Ezra, du wirst gehen. Wir werden die nächsten zwei Wochen damit verbringen, Informationen über Desmond Tiger heraus zu finden. Wir müssen davon ausgehen, daß dies nicht sein richtiger Name ist.“ „Und wie sollen wir etwas über diesen geheimnisvollen Kerl herausfinden?“ fragte Nathan zweifelnd nach. Dieser Krimineller war wirklich jeder polizeilichen Organisation ein Rätsel. „Recherchiert, redet mit der Polizei, fragt unsere Informanten aus. Irgend jemand muß wissen, wer dieser Kerl ist, verdammt noch mal“, fluchte Chris ungehalten. „Wieso wehrst du dich dagegen, mich zu schicken?“ fragte Vin. „Du hast nicht die Erfahrung in diesem Bereich, die Ezra besitzt. Dieser Fall ist äußerst heikel, und Ezra ist genau der richtige Mann für diesen Job.“ „Es ist also brandgefährlich“, stellte Ezra fest. Chris nickte. „Ja, das ist es. Die FBI-Agenten, die undercover reingegangen sind, sind alle verschwunden. Der Letzte wird seit drei Monaten vermißt. Anscheinend ist es ihnen gelungen, in das nähere Umfeld von Desmond Tiger zu kommen.“ „Und sie wurden entlarvt. Deshalb wurden sie getötet“, bemerkte Vin. „Ja, danach sieht es aus. Also, macht euch an die Arbeit. Desmond Tiger zu entlarven und ihn festzunehmen, wird Knochenarbeit.“ Das Team nickte und stand auf. Sie verließen den Besprechungsraum und nahmen an ihren Schreibtischen Platz. Chris ging in sein Büro. Noch immer ging es ihm gegen den Strich, wie das FBI sich mal wieder in seinen Job hinein drängte und ihm sagen wollte, wie er am besten seine Arbeit machte. Eine Stunde später Ein Klopfen an der Tür ließ Erin aufsehen. „Ja?“ Oliver, ihr Fahrer und ihre rechte Hand, betrat das prächtig ausgestattete Büro seiner Chefin. „Ray hat gerade angerufen“, informierte er sie. Vor ihrem Schreibtisch blieb er stehen. „Ich höre?“ „Das FBI hat den Fall abgegeben.“ „Was? Hören Sie etwa auf mich zu jagen? Das enttäuscht mich“, sprach Erin, die nur unter den Namen Desmond Tiger bekannt war. Doch Oliver schüttelte verneinend den Kopf. „Sie haben ihn einer Spezialeinheit übergeben.“ „Was wissen wir über die?“ „Die Einheit nennt sich Team Seven. Leiter ist ein gewisser Chris Larabee.“ „Larabee! Ist das nicht der Agent, dessen Familie durch eine Autobombe ums Leben kam?“ „Ja, Des, genau dieser Chris Larabee. Der Mann ist ziemlich verzweifelt und fertig deswegen.“ Erin grinste breit. „Kann ich mir vorstellen! Laß Ray seine Belohnung zukommen.“ „Die gewohnte Summe?“ fragte Oliver, obwohl diese Frage überflüssig war. Erin nickte. „Ja, die gewohnte Summe. Und sage ihm, ich will auf dem Laufenden gehalten werden. Dieses Team wird wohl einen Agenten undercover schicken. Wir sollten uns auf dessen Besuch vorbereiten. Und Ray soll uns alle Informationen über das Team zukommen lassen, die er hat. Ich will alles wissen.“ „Ich werde mich darum kümmern“, versprach Oliver. „Wie schaut es mit der Lieferung für Samuel aus?“ „Es wird alles vorbereitet. Bald ist alles erledigt.“ „Der Termin ist in zwei Tagen.“ „Bis dahin sind wir fertig, und der Deal kann über die Bühne gehen.“ „Gut. Wir werden das Geschäft in New York abwickeln. Sorge bitte dafür, daß alles dafür vorbereitet wird.“ „Sehr wohl, Chefin“, sprach Oliver, und er verließ das Büro. Erin drehte sich in ihrem Stuhl und blickte aus einem der hohen Fenster, die die Augen ihrer Villa waren. Das FBI kam mit der ganzen Sache anscheinend nicht mehr zurecht. Der Fall wurde zuviel für sie. Er überforderte ihre Jäger deutlich. Eine andere Erklärung – warum sie plötzlich so aufgaben – hatte Erin nicht. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Diese Reaktion des FBIs überraschte sie nicht wirklich. Insgeheim hatte sie schon damit gerechnet, denn ihre Jäger kamen in dem Fall seit Jahren einfach nicht mehr weiter. „Dann schlagen wir uns halt mit diesen Supercops aus den Spezialeinheiten herum“, flüsterte Erin. Ihr machte dieses Spiel sehr viel Spaß. Niemand wußte, wer Desmond Tiger wirklich war. Keine kannte ihre wahre Identität. Sie alle hatten keine Ahnung, daß Desmond in Wahrheit eine Frau war. Sie gingen alle – egal ob FBI oder eine Spezialeinheit – davon aus, daß Desmond Tiger ein Mann war. Und Erin hielt es für besser, es dabei zu belassen. Jeder, der es herausfand, war sowieso so gut wie tot. Irgendwie machte es sie stolz, zu den meistgesuchten Menschen Amerikas zu zählen. Welcher Verbrecher würde sich bei dieser großen Aufmerksamkeit seitens der Polizei nicht geehrt fühlen? Und daß niemand ihr nahe genug kam, um sie zu entlarven, war für sie Grund genug, das FBI mit ihren Aktionen immer mehr zu reizen. Sie hatte keine Angst vor ihren Verfolgern oder davor, verhaftet zu werden. Sie wußte, wie schwer es war, sie zu finden. Es war wirklich hilfreich, ein Phantom zu sein.
~ 2. ~ „J.D.?“ Chris‘ Stimme riß den jungen Agenten aus seinen Recherchen. „Ja?“ „Wo sind Buck und Vin?“ „Unterwegs. Sie suchen Marc auf, ihren Informanten aus der Drogenszene. Du weißt doch: Der, der über alles Bescheid weiß.“ „Verstehe! Wenn sie wieder da sind, sag ihnen, ich will sie sprechen.“ „Wird gemacht, Boß“, scherzte J.D., und er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Ziemlich herunter gekommen, der Laden“, sprach Buck, als er mit Vin vor der Bar ‘Lockly‘ stand, in der Marc eigentlich immer zu finden war. Dieser Schuppen war schon fast sein zu Hause. „Ist das überhaupt eine Bar?“ fragte Vin zweifelnd. „Von außen schaut das jedenfalls nicht so aus. Nur der Name deutet darauf hin. Wahrscheinlich ist es wohl eher ein Treffpunkt für jeden Drogensüchtigen und jeden Dealer in dieser Stadt.“ „Na, dann paßt dieser Schuppen ja prima zu Marc“, meinte Vin. „Los, gehen wir rein!“ Vin steckte seine Sonnenbrille in seine Jacke und stieß die Tür auf. Eine dichte und stickige Rauchwolke kam den beiden Agenten entgegen. „Oh Gott! Stinkt das hier“, kommentierte Buck. Vin und er schauten sich in der Bar um. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war sie schon gut besucht. An den Tischen saßen Junkies, die sich gegenseitig ihr Leid klagten. Am Tresen saßen einige Männer, die so aussahen, als freuten sie sich nur noch auf das nächste Glas Whiskey, das sie trinken konnten. „Siehst du ihn?“ fragte Vin. „Nein. Aber hier sieht man auch kaum seine eigene Hand vor den Augen. Mann, wie halten die das aus?“ „Die kennen nichts Anderes“, murmelte Vin, und er ließ seinen Blick über die Besucher der Bar gleiten. „Da drüben ist er“, sprach Vin auf einmal, und er deutete auf eine schlaksige, blonde Gestalt. „Na, dann halten wir einen kleinen Plausch mit ihm ab“, meinte Buck, und er drängte sich an den Tischen vorbei. Marc hob den Blick und sah Buck Wilmington, der auf ihn zusteuerte. „Scheiße, nicht der schon wieder“, flüsterte er und sprang auf. Er schob den Stuhl, auf dem er saß, so heftig zurück, daß dieser laut zu Boden fiel. Der Lärm lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Agenten erst recht auf ihn. Einen Moment starrte Marc die Beiden an, dann lief er zum Hinterausgang der Bar. „Er will abhauen“, sprach Buck, und er lief sofort hinterher, während Vin kehrt machte und das Lokal durch den Vordereingang verließ. Als Vin vor dem Lokal stand, raste gerade Marc aus der Seitengasse und hinter ihm war Buck. „Marc, bleib stehen! Wir wollen doch nur mit dir reden“, rief Buck. „Ihr könnt mich mal!“ erwiderte der Junkie, der nur widerwillig ein Informant für die Polizei war. Und schon gar nicht wollte er mit diesen verrückten Typen von Team Seven reden, die ihm sowieso wieder ein Veilchen verpassen würden, sobald er den Mund aufmachte. Marc lief die Straße hinab und hoffte, daß er die beiden Agenten abschütteln konnte. In dieser herunter gekommenen Gegend kümmerte sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten. Niemand mischte sich in die Streitereien ein, die schon früh morgens auf den Straßen dieses Viertels herrschten. Denn jeder wußte, wie gefährlich eine solche Einmischung für einen werden konnte. Und so konnte Marc keine Hilfe erwarten. Hoffentlich hänge ich diese Idioten ab, dachte er verzweifelt, und er rannte noch schneller. Marc bog nach rechts ab und landete in einer langen Gasse. Er stolperte über eine Mülltonne, rappelte sich jedoch sofort wieder auf und rannte weiter. „Verschwindet endlich“, forderte Marc. „Wir tun dir doch nichts“, rief Vin. Marc stand die blanke Angst ins Gesicht geschrieben. „Er hat was gegen uns“, stellte Buck trocken fest. „Stellen wir fest, was es ist“, meinte Vin. Die beiden Agenten kamen Marc ein Stück näher. Marc warf einen Blick zurück und versuchte, noch schneller zu werden. Doch das gelang ihm nicht, da ihm langsam die Luft ausging. Und ein weiteres Hindernis stellte sich ihm in den Weg. Vor Marc tat sich eine hohe Mauer auf. Drüberspringen war nicht möglich. Marc blieb davor stehen und drehte sich langsam um. Diese Agenten, die Informationen aus ihm raus quetschten, waren wirklich hartnäckig. Vin und Buck verlangsamten ihr Tempo, da Marc sowieso nicht fliehen konnte. Den einzigen Fluchtweg versperrten sie ihm. „Komm schon, Marc, wieso läufst du vor uns davon? Wir wollen doch nur mit dir reden“, sprach Buck. „Kommt mir bloß nicht zu nahe“, forderte Marc, und er warf eine leere Mülltonne nach ihnen. Vin duckte sich, und die Mülltonne landete laut scheppernd am Boden. „Jetzt reicht es“, sprach Buck, und er zog seine Waffe, die er auf Marc richtete. „Ganz ruhig, Junge!“ Marc hob die Hände vor Angst. „Nicht schießen!“ bat er. Vin näherte sich ihm und schlug ihm leicht auf den Hinterkopf. „Mein Gott, wir würden dich doch nie erschießen. Du bist doch unser Freund“, sprach er. Buck nickte und legte einen Arm um die Schulter von Marc. Er steckte seinen Revolver zurück in das Halfter. „Also, warum läufst du vor uns davon? Wir wollen doch nur ein wenig mit dir plaudern.“ „Ich weiß nichts und ich habe nichts getan“, beteuerte Marc heftig. „Hör dir das an, Vin! Dabei haben wir ihm noch nicht einmal gesagt, worüber wir mit ihm reden wollen.“ „Stimmt! Wieso fliehst du vor uns? Sag bloß, du hast etwas zu verbergen“, meinte Vin. „Gar nichts. Ich hab gar nichts zu verbergen.“ „Laß mich mal deine Taschen sehen“, sprach Vin und durchsuchte die Taschen von Marc. Triumphierend hielt er eine kleine Tüte Kokain in den Händen. „Haben wir dir nicht schon tausend Mal gesagt, daß dieses Zeug Gift für dich ist?“ tadelte Vin ihn. „Das geht euch nichts an! Das Koks gehört mir. Her damit!“ forderte Marc. „Nein, das nehme ich besser an mich. Ich werde es für dich entsorgen“, erwiderte Vin, und er steckte die Drogen in seine Tasche. „Was ... was wollt ihr?“ fragte Marc zögernd. „Er hört sich an, als hätte er Angst vor uns“, bemerkte Buck amüsiert. „Allerdings! Seit wann das denn? Hör zu, Marc: Wir brauchen deine Hilfe. Du kennst doch wirklich jeden in der Verbrecherszene. Und deshalb mußt du uns helfen, jemanden ausfindig zu machen.“ „Ich kenne ... wirklich nicht jeden“, wich Marc aus. „Wer ist Desmond Tiger?“ brachte Vin die Sache auf den Punkt. Vin und Buck bemerkten, wie Marc sich deutlich versteifte. „Keine Ahnung! Noch nie von ihm gehört.“ „Du lügst!“ stellte Vin fest. „Nein, ich lüge nicht. Jungs, euch würde ich doch nie anlügen“, meinte Marc mit einem gequälten Lächeln. Buck blickte ihm ernst in die Augen. „Du hast Angst vor diesem Tiger. Deshalb willst du uns nicht sagen, wer er ist. Hast du ihn gesehen?“ „Nein. Ihr täuscht euch. Ich kenne so nen Kerl nicht.“ „Was meinst du?“ fragte Buck seinen Kollegen. „Er erzählt uns nicht alles. Ich habe das Gefühl, er verschweigt uns etwas. Das tust du doch nicht, oder etwa doch?“ fragte Vin herausfordernd. „N ... nein.“ „So recht glaube ich dir nicht. Du kannst mir nicht erzählen, daß du Desmond Tiger nicht kennst; daß du noch nie von ihm gehört hast!“ „Habe ich nicht“, erwiderte Marc. „Rede keinen Blödsinn, Marc“, fuhr Vin ihn scharf an. „Jeder in der Unterwelt kennt diesen Namen. Du mußt doch den Namen kennen!“ „Nein“, behauptete Marc. „Verdammt, hör auf, mich anzulügen! Ich sehe dir an der Nasenspitze an, daß du lügst. Also, rück raus mit der Sprache: Wo finden wir Tiger?“ „Kann ich euch nicht sagen“, sprach Marc kleinlaut. Buck und Vin tauschten einen wissenden Blick aus. Sie wußten beide, daß Marc – ganz offensichtlich – log. „Du wirst reden. Wir werden dich mitnehmen. Ich bin mir sicher ... Chris wird dich zum Reden bringen“, meinte Vin, und er holte ein paar Handschellen hervor, die er Marc anlegte. „Hey, was soll das? Ich bin doch unschuldig. Ich habe nichts getan“, sprach Marc entsetzt. „Jetzt kannst du dich offiziell als verhaftet betrachten“, zischte Vin, und er gab Marc einen Stoß. Buck packte Marc am Kragen, und sie schleppten den kleinen Fisch, der Marc eigentlich in dieser drogenverseuchten Welt war, mit sich zu ihrem Wagen. Mit Marc im Schlepptau fuhren sie ins Büro zurück. „Wo wart ihr denn solange?“ fragte Chris, der gerade mit Josiah etwas besprach. Buck grinste, und gleich darauf ertönte Vins Stimme: „Beweg dich schon, Marc! Wir haben nicht ewig Zeit.“ „Ihr könnt mich nicht festhalten. Das ist gegen das Gesetz.“ Gleich darauf erschien Vin, der ihren Informanten vor sich her schob. „Das ist Marc, unser kleiner Informant, der ganz deutlich etwas verschweigt. Das ist Chris Larabee, das Gesetz“, stellte Vin die Beiden vor. Marc schluckte schwer, als er den starren Blick von Chris bemerkte. „Ich will hier raus“, flüsterte er. „Es kommt ganz auf dich an, wie lange du hier bleibst.“ „Ich will meinen Anwalt anrufen.“ „Jetzt lügst du schon wieder! Du hast doch gar keinen Anwalt“, sprach Vin. „Was ist den hier los?“ unterbrach Chris das kleine Streitgespräch. „Er hat uns angelogen. Der Kerl behauptet doch ernsthaft, Desmond Tiger nicht zu kennen. Kannst du dir das vorstellen, Chris? Du weißt doch, von welchem Kaliber der Mann ist.“ „Du hast recht. Er muß von ihm gehört haben.“ „Mann, ich habe keine Ahnung, von wem ihr hier sprecht.“ „Ich bringe ihn in den Besprechungsraum“, sprach Vin, und er gab Marc einen unsanften Stoß. Vier Stunden später „Noch einmal: Wer ... Ist ... Desmond ... Tiger?“ fragte Chris genervt. Auf dem Tisch vor ihnen standen Tassen voller Kaffee. Marc lehnte sich zurück. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, wer er ist.“ „Wie lange willst du noch lügen, Marc?“ fragte Vin, und er sah auf, als die Tür aufging und Buck eintrat. Chris und Vin registrierten, wie sich Marc augenblicklich versteifte. Vin nickte Chris unbemerkt zu. Anscheinend hatten sie die Lösung – wie man Marc zum reden brachte – gerade direkt vor ihren Augen. „Buck, würdest du bitte eine Weile bei ihm bleiben?“ sprach Chris, und er erhob sich. „Klar, doch, Boß! Er kennt mich ja noch von meinem letzten Besuch bei ihm“, meinte Buck. Chris gab Vin ein Zeichen. „Nein“, rief Marc panisch. „Ihr könnt mich nicht mit diesem Verrückten allein lassen.“ „Wieso? Buck ist doch kein Verrückter. Er hat nur wenig Geduld“, meinte Vin schulterzuckend. „Bitte nicht! Laßt mich nicht mit ihm allein. Ich flehe euch an.“ „Wir sind gleich wieder da. Keine Sorge, er wird dich schon nicht fressen“, meinte Chris, und er verließ mit Vin den Raum. Hinter ihnen fiel die Tür zu. Buck setzte sich grinsend dem Drogensüchtigen gegenüber. Panisch blickte Marc sich um. Er hatte schreckliche Angst vor Buck, das sah man ihm an der Nasenspitze an. „Na, alter Junge, wie schaut es mit deinen Lügen aus? Fallen dir noch welche ein?“ fragte Buck herausfordernd, und er beugte sich vor. Automatisch versteifte sich Marc, und er rückte mit seinen Stuhl ein Stück nach hinten. „Ich ...“ „Hör mal, Marc: Du erzählst mir jetzt, was du weißt, und ich lasse dich in Ruhe. Du weißt doch: Ich bin unberechenbar.“ „Ich weiß doch nichts.“ Augenblicklich sprang Buck auf, und er war so schnell bei Marc, daß dieser nicht mehr mit dem Schauen nachkam. Drohend beugte sich Buck herab und legte Marc eine Hand auf die Schulter. „Bürschchen, du steckst in einer schwierigen Lage. Wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will, rufe ich deinen Bewährungshelfer an und erzähle ihm, was Vin und ich bei dir gefunden haben.“ „Nein, bitte nicht“, rief Marc panisch. Das Einzige, wovor er noch mehr Angst hatte als vor Buck Wilmington, war das Gefängnis. „Ich will nicht zurück in den Knast! Ich halte es dort nicht aus.“ „Tja, dann solltest du dich entscheiden. Wir wissen, daß du was weißt. Also, mache es dir leichter und rede darüber. Dann vergessen wir auch, daß wir das Koks bei dir gefunden haben. Du bist doch nur ein kleiner Fisch. Du bist nicht von Interesse für uns. Doch dein Bewährungshelfer interessiert sich schon dafür, was du so in deinen Taschen hast!“ Marc nickte langsam. „Ich weiß nicht viel, aber ... ich werde euch erzählen, was ich weiß.“ „Gut“, sprach Buck, und er klopfte ihm auf die Schulter. Buck ging zur Tür und öffnete sie. „Chris, er ist soweit.“ „Ich weiß nicht warum, aber dich kann er auf den Tod nicht ausstehen“, meinte Chris, als er den Raum betrat. Vin folgte ihm. „Was weißt du über Desmond Tiger?“ fragte Chris sofort. „Nun ... ich ... ich habe ihn einmal gesehen – von weitem. Er wickelte ein Geschäft ab.“ „Waffen?“ „Ja, er hat eine ganze Ladung an einen Japaner verkauft. Jedenfalls habe ich damals in der herunter gekommenen Halle geschlafen, wo der Deal stattfand. Es war ziemlich dunkel.“ „Wie sah er aus?“ „Groß, dunkelhaarig und sehr furchteinflößend – so wie Buck.“ Chris und Vin blickten Buck an. Dieser grinste nur. „Ist das alles?“ „Es war mitten in der Nacht und es war dunkel. Ich konnte ihn nicht ganz erkennen. Er hatte so ne Art an sich, die ... äußerst tödlich ist. Das ist alles, was ich weiß. Ich will mit diesem Tiger nichts zu tun haben. Das ist nicht meine Branche. Ich bin doch nur ein kleiner Junkie, der sein Leben für ein paar Gramm Kokain gibt. Desmond Tiger ist mir ein zu hohes und gefährliches Tier.“ Vin tauschte einen Blick mit Chris. Sie wußten, mehr konnte Marc nicht sagen. Man sah ihm an, daß er nicht mehr wußte. Und selbst diese kleine Information weiter zu geben, löste bei Marc wahre Angstzustände aus. Vin erlöste Marc von den Handschellen. „Kann ich gehen?“ fragte Marc, eingeschüchtert durch Bucks bloße Anwesenheit. Chris nickte. „Ja, doch du solltest für dich behalten, was du uns gesagt hast.“ „Keine Sorge, ich werde es sicher keinem verraten. Wenn die erfahren, daß ich mit den Bullen geredet habe, kriege ich mächtigen Ärger“, murmelte Marc, und er verließ hastig das Büro. „Groß und dunkelhaarig? Diese Beschreibung trifft auf jeden dritten Mann in Denver zu“, bemerkte Vin. „Stimmt! Aber es ist ein Anhaltspunkt. Buck, was hast du ihm getan, daß er eine solche Angst vor dir hat?“ Buck lachte aus vollem Hals. „Als wir das letzte Mal Informationen brauchten, habe ich Marc aufgesucht. Er wollte zuerst nicht, da bin ich mit ihm durch die Gegend gefahren und habe ihm angedroht, ihn im Hafen zu ertränken, wenn er nicht redet. Er hatte so eine dermaßen große Angst, daß er jedesmal flieht, wenn er mich sieht.“ Chris und Vin lachten. „Gut, daß das FBI nichts von deinen Verhörmethoden weiß“, bemerkte Vin. „Du sagst es“, bestätigte Buck. „Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Vin, und er wurde sofort wieder ernst. „Wir müssen ein Foto von Desmond Tiger beschaffen. Ich kann Ezra doch unmöglich blind da rein schicken.“ „Stimmt! Das Risiko ist viel zu groß. Ich meine, wir könnten an Desmond Tiger vorbei laufen und würden nicht einmal merken, daß er es ist.“ „Eben. Mir gefällt dieser Kerl nicht. Er verhält sich wie ein Phantom.“ „Vielleicht will er in die Geschichte eingehen“, bemerkte Buck trocken. „Los, machen wir uns an die Arbeit“, forderte Chris. Lange Tage und Nächte der Recherche standen Team Seven bevor.
~ 3. ~ Die Schreibtische der Männer von Team Seven versanken im Chaos. Überall lagen leere Pizzaschachteln und ähnliches herum. In den letzten Tagen hatten sie kaum ihr Büro verlassen. Nur am gestrigen Tag waren sie an die frische Luft gekommen, und das auch nur, weil Ezra angerufen hatte, daß sie ihren Auftrag zu Ende führen mußten. So hatten sie sich in ihre Uniformen geworfen und hatten den Kerl, den Ezra entlarven sollte, verhaftet. Dieser Auftrag war nun zu Ende, und jetzt galt es, ihre ganze Aufmerksamkeit auf Desmond Tiger zu richten. Josiah und Nathan waren an ihren Schreibtischen eingeschlafen. Chris blickte auf die Informationen, die sie zusammen getragen hatten. Es waren nicht sehr viel mehr dazu gekommen, als schon bekannt waren. „Wer bist du, Desmond Tiger?“ flüsterte er und starrte aus dem Fenster des Büros. Draußen regnete es in Strömen. Das grauenhafte Wetter paßte zu der Stimmung im Team Seven, die tief in den Keller gefallen war. Dieser Fall brachte sie schon jetzt an den Rand des Wahnsinns, und dabei hatten sie noch nicht einmal richtig angefangen. Zur selben Zeit klingelte bei Erin das Telefon. „Ja?“ „Hallo Des“, begrüßte eine bekannte Stimme sie. „Ray! Wie schön, daß du von dir hören läßt. Hast du die letzte Zahlung bekommen, mein Lieber?“ fragte sie schmeichelnd, und sie drehte sich in ihrem Schreibtischsessel hin und her. „Allerdings. Ich ... ich danke dafür. Ich habe Neuigkeiten.“ „Ich höre“, sprach sie interessiert. „Ich habe erfahren, daß ein Junkie mit Team Seven geredet hat. Er hat ihnen erzählt, er wüßte, wer du bist.“ „Was? Das kann nicht sein!“ fauchte Erin. „Keine Sorge, er hat einen Mann beschrieben.“ Über Erins Lippen huschte ein Lächeln. „Er muß den falschen Desmond Tiger gesehen haben.“ „Ja. Jedenfalls steht Team Seven vor einem ziemlichen Rätsel, was deine Person angeht.“ „Das ist gut. Was ist mit den Fotos von ihnen? Ich will wissen, wie sie aussehen.“ „Ich habe sie hier. Ich werde sie dir faxen.“ „Tue es gleich“, bat Erin ihn in einen Tonfall, der keinen Widerspruch gelten ließ. Sie hörte, wie sich der FBI-Agent sofort an die Arbeit machte. „Wie schätzt du dieses Team ein?“ fragte Erin. „Sie sind verdammt gut. Um ehrlich zu sein: Sie sind die Besten. Es gab noch keinen Fall, an dem sie gescheitert sind.“ „Tja, irgendwann muß immer das erste Mal sein. Und mich werden sie nicht kriegen.“ Erin blickte zu ihrem Faxgerät, das gerade zu Arbeiten anfing. „Kommen wir zu diesem kleinen Singvogel zurück. Wer ist er?“ „Sein Name ist Marc. Er ist stadtbekannt. Ein kleiner Fisch, der alles tut für ein paar Gramm Kokain oder Marihuana. Er hat deinen Vorzeige-Desmond bei einem Deal beobachtet.“ „Welcher Deal?“ „Der Deal mit Cho Wang.“ „Oh ... mit Cho Wang, der ja auch leider einen tragischen Unfall hatte, der ihn getötet hat“, flötete Erin fröhlich. „Jedenfalls ... er hat denen gesagt, er hätte einen Mann gesehen.“ „Ich danke dir. Ich werde mich um das Problem mit Marc kümmern. Er wird nie mehr reden. Er wird dazu keine Möglichkeit mehr haben. Informiere mich weiter über die Arbeit von Team Seven. Woher weißt du all das überhaupt?“ „Das FBI überwacht die Arbeiten, ohne daß die es wissen. Steven Care wartet nur auf eine Möglichkeit, Chris Larabee fertig zu machen. Er mag ihn nicht besonders.“ „Verstehe. Wir sprechen uns wieder“, meinte Erin, und sie legte auf. Mit einer eleganten Bewegung erhob sie sich und ging zu ihrem Faxgerät. Sie griff nach dem Blatt Papier, das es ausgespuckt hatte, und betrachtete die Fotos der Männer von Team Seven. Einen nach dem anderen musterte sie nachdenklich. Sie wußte, wer Chris Larabee war. Jeder in der Szene wußte, was mit seiner Familie passiert war. Und so gut wie jeder in dieser Szene wußte, WER es getan hatte – jedenfalls die ganz großen Tiere wußten Bescheid. Sie alle amüsierte es, daß man es geschafft hatte, einem solchen Topagenten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die anderen Gesichter prägte sie sich gut ein. Sie speicherte sie in ihrem Gedächtnis. Schon bald würde einer von ihnen vor ihr stehen und sie entlarven wollen. Und wenn es soweit war, würde der nächste Agent sterben. Aber niemand würde es schaffen, sie zu verraten und ihren Geschäften einen Riegel vorzuschieben. Niemals würde sie ins Gefängnis gehen. Achtlos warf Erin das Blatt auf ihren Schreibtisch. Sie verließ das Büro, da sie noch einen wichtigen Termin hatte. Ihr Privatflugzeug wartete schon auf dem Flughafen. Es stand bereit, sie nach Chicago zu bringen, um einen erfolgreichen Geschäftsabschluß hinter sich zu bringen. Noch wußte Erin nicht, welche Rolle einer der Agenten von Team Seven in ihrem Leben spielen würde. Noch wußte sie nicht, daß einer von ihnen alles durcheinander bringen würde ... Seufzend lehnte sich Vin zurück und schloß die Augen. Müde legte er seinen Kopf in den Nacken. Chris blickte von seinem Büro zu seinen Leuten. Sie alle waren müde und abgespannt. Sie alle sahen aus, als würden sie gleich tot umfallen. „Leute, fahrt nach Hause und schlaft euch aus“, befahl Chris. „Wir brauchen alle Schlaf. Wir machen morgen weiter. Heute hat das keinen Sinn mehr.“ Das Team murrte nicht einmal, sondern stand auf und verließ das Büro. Sie alle waren froh über diese kleine Pause. Wenig später verließ auch Chris das Büro. Es half ihnen allen nicht, wenn sie bis zur totalen Erschöpfung arbeiteten. Dieser Fall kostete sie alle viel Kraft und noch mehr Nerven. Fast lautlos glitt die schwarze Limousine über die Straße. Erin lehnte sich zufrieden zurück und besprach mit Oliver ihre weitere Vorgehensweise. „Du wirst hierbleiben“, befahl sie. „Kommst du ohne mich klar?“ fragte er. Erin blickte auf den Mann, der neben ihr saß. „Jordan begleitet mich. Für dich habe ich einen besonderen Auftrag.“ „Um was geht es?“ „Ich will, daß du diesen kleinen Singvogel Marc findest und ihn aus den Verkehr ziehst.“ „Ich habe verstanden. Wenn du wieder da bist, ist der Job erledigt“, versprach Oliver ihr. „Gut. Richte diesem Singvogel von mir aus ... daß niemand auch nur ein Wort über mich bei den Bullen verliert, ohne daß er damit mit dem Leben bezahlt“, sprach Erin gelassen. „Ich werde es ihm sagen, bevor er stirbt“, lachte Oliver. Die Limousine kam bei einem kleinen Privatflugplatz an. Oliver hielt seiner Chefin die Wagentür auf und begleitete sie zu ihrer Maschine. „Sollte es Probleme geben, ruf mich an. Ich bin dann so schnell wie möglich wieder hier“, sprach Erin. „Wir kommen schon klar! Die Sache mit Marc ist schon so gut wie erledigt. Er wird keine Gelegenheit haben, noch einmal zu reden.“ „Gut. Und behalte mir Ray ein wenig im Auge. Unser polizeilicher Informant scheint mir in letzter Zeit etwas zu nervös zu sein. Paß auf, daß er uns nicht verrät. In vier Tagen bin ich wieder da“, sprach Erin, und sie stieg in ihr Privatflugzeug ein. Jordan folgte ihr. Wenig später hob die Maschine ab, und Oliver fuhr zurück. Er hatte noch etwas zu erledigen. Marc verließ die Bar, die er regelmäßig besuchte. Es hatte geregnet, und nur das schwache Licht der Laternen schien über die dunklen Straßen. Langsam ging er die Straße hinunter. In letzter Zeit war Marc äußerst vorsichtig und darauf bedacht, niemandem zu zeigen, daß er Angst hatte. Seit er Team Seven erzählt hatte, was er gesehen hatte, hatte er Angst. Er hatte Angst, daß Desmond Tiger dahinter kam und sich an ihm rächen würde. Leicht zuckte Marc mit den Schultern, und er bog in eine verlassene Gasse ein, um zu seinem momentanen Schlafplatz zu gelangen. Als er ein leises Geräusch hinter sich hörte, blieb Marc augenblicklich stehen. Er drehte sich um und spähte in die Dunkelheit. „Hallo? Ist da jemand?“ Doch sein Ruf verhallte unbeantwortet in der Finsternis der Straße. Marc schüttelte den Kopf und ging weiter. Nach wenigen Minuten hörte Marc deutlich Schritte hinter sich. Jemand war da, und er verfolgte ihn. Es war offensichtlich, daß sein Verfolger ihn spüren lassen wollte, daß er nicht länger allein war. Panik packte Marc, und er ging schneller. Sein Verfolger hielt jedoch mit ihm Schritt. Marc fing am ganzen Körper zu zittern an und blickte sich panisch um. Er wußte, da war jemand, doch Marc konnte niemanden entdecken, wenn er sich umblickte. Und dann wurde alles still, und die Schritte waren nicht mehr zu hören. Ich muß hier weg, dachte Marc, und von seiner Angst gepackt rannte er los. An der nächsten Seitengasse packte ihn jemand brutal am Kragen und zog ihn in die Dunkelheit. Er wurde gegen die Mauer einer leerstehenden Lagerhalle geworfen und glitt zu Boden. Marc tastete nach einer offenen Wunde, die er an der Stirn hatte. Blut rann leicht über sein Gesicht. Benommen blickte er auf. Ein Mann baute sich vor ihm auf. In der Dunkelheit konnte Marc sein Gesicht nicht erkennen. „Wer ... wer bist du?“ stammelte Marc ängstlich. „Desmond Tiger schickt mich“, erwiderte der Mann mit rauher Stimme. Marc zuckte zusammen. Desmond Tiger hatte also erfahren, daß er geredet hatte. Das ist mein Todesurteil, dachte Marc, und er schluckte schwer. „Ich habe eine Nachricht für dich, mein kleiner Singvogel“, sprach Oliver gefährlich. Er blickte auf den Drogensüchtigen hinab und ein kaltes, gefährliches Lächeln huschte über seine Lippen. „Niemand verliert ein Wort über Desmond Tiger bei den Cops, ohne dafür mit dem Leben zu bezahlen“, sprach Oliver, und er richtete eine Waffe auf Marc. Im schwachen Schein einer Straßenlaterne blickte Marc entsetzt auf die Waffe. Panisch riß er die Augen auf. Ihm war klar, daß er diese Nacht nicht überleben würde. „Gute Nacht, Marc! Du wirst nie mehr mit der Polizei sprechen“, sprach Oliver, und er drückte ab. Die Kugel traf präzise ihr Ziel und der tote Körper von Marc glitt zu Boden. Oliver blickte sich um, um sich zu vergewissern, daß niemand ihn beobachtet hatte. Erin legte großen Wert darauf, daß niemand ihre Geschäfte störte. Und Oliver sorgte dafür, daß dies auch so geschah. Achtlos steckte er die Waffe zurück in den Halfter und verschwand. Er ließ die Leiche einfach liegen. Ohne es ausgesprochen zu haben, wußte Oliver, daß Erin wollte, daß die Polizei Marcs Leiche fand. Es war ein eindeutiges Zeichen. Es war ein Zeichen, um Team Seven zu zeigen, was mit Leuten passierte, die zuviel erzählten ...
~ 4. ~ „Marc ist tot?“ fragte Buck ungläubig. Vin nickte und reichte seinen Kollegen die Fotos der Leiche. Chris schaute sie sich grimmig an. „Es ist offensichtlich, daß er von Desmond Tiger oder einem seiner Leute ermordet wurde. Jemand wollte ihn zum Schweigen bringen.“ „Oder man wollte ihn bestrafen, weil er mit uns geredet hat“, stellte Vin fest. Chris blickte seinen Scharfschützen wissend an. „Das würde bedeuten ...“ „Daß jemand weiß, daß Marc mit uns geredet hat. Jemand gibt Informationen über unsere Arbeit an Desmond Tiger weiter“, sprach Vin ernst. Chris nickte zustimmend. „Das heißt, es gibt einen Maulwurf? Aber wer würde das tun? Wir würden doch niemals unsere eigenen Leute verraten?“ mischte sich Nathan ein. „Es gibt einen Maulwurf beim FBI. Die Agenten, die früher an Desmond Tiger dran waren, waren alle vom FBI. Die haben dort einen Verräter.“ „Aber wie können die ...?“ Vin stockte inmitten seines Satzes und blickte Chris an. „Das würde doch bedeuten, daß sie unsere Arbeit überwachen, oder?“ Chris nickte und stöhnte verächtlich. „Das würde ihnen ähnlich sehen. Aber die überwachen nicht euch, sondern mich. Steven Care will einen Grund, um mich fertig zu machen. Doch ich werde ihm keinen liefern. Wir werden diesen Fall lösen und Desmond Tiger verhaften“, sprach Chris entschlossen, und er ließ seine Leute allein. Die Tür seines Büros schloß sich hinter ihm. „Der arme Junge“, murmelte Buck. „Wer? Chris?“ fragte Ezra verwirrt. „Nein, Marc. Ich mochte den Kleinen. Das hatte er nicht verdient. Ich mochte ihn. Einen solchen Tod hatte Marc nicht verdient“, sprach Buck betroffen. Marc war nur ein kleiner Fisch gewesen und nun war er tot. Er war getötet worden, weil er etwas erzählt hatte, was ihm das Leben gekostet hatte. Mit Desmond Tiger war wirklich nicht zu spaßen. Und nach diesem Vorfall war das jedem bei Team Seven klar. Vier Tage später Ihre Geschäfte in Chicago hatten etwas länger gedauert als erwartet. Doch nun war Erin wieder da. Oliver hatte ihr die Zeitung gereicht, wo über die Ermordung von Marc berichtet wurde. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie las, daß die Polizei um die Mithilfe der Bevölkerung bat. „Das ist ein sinnloses Unterfangen“, sprach sie. „Er wurde in einer Gegend getötet, wo niemand redet.“ „Allerdings! Aber keine Sorge! Mich hat niemand gesehen“, sprach Oliver, und er hielt den Wagen an einer Kreuzung. „Wie waren die Geschäfte?“ „Gut, es ist alles in Ordnung. Was ist mit Ray? Hast du ihn im Auge behalten?“ Oliver nickte leicht als er abbog. „Ich habe auf ihn aufgepaßt, keine Sorge, Erin. Er ist, wie du selbst sagtest, etwas nervös. Ich schätze, daß dieses Team Seven nun auf uns angesetzt wurde, macht ihn so unruhig. Er hat Angst, daß er auffliegt. Immerhin versorgt er uns seit Jahren mit den Informationen über die Polizei.“ „Ich sollte ihm eine kleine zusätzliche Finanzspritze zukommen lassen“, überlegte Erin laut. „Soll ich das veranlassen?“ „Ja, überweise ihm hunderttausend Dollar. Das wird ihn hoffentlich friedlich stellen und ... achte weiter auf ihn. Sollte Ray doch noch zum Problem werden, dann töte ihn“, befahl Erin,und sie lehnte sich zurück. Sie schlug die Zeitung auf und konzentrierte sich darauf, während Oliver durch die Stadt zu ihrem Anwesen fuhr. Das Klopfen an seiner Bürotür ließ Chris aufsehen. „Ja?“ Gleich darauf ging die Tür auf und Vin betrat das Büro. „Hast du kurz Zeit?“ Chris nickte leicht. Vin schloß die Tür hinter sich und ging zum Fenster, wo er nachdenklich hinaus blickte. „Was denkst du über diesen Maulwurf?“ fragte Vin schließlich. „Irgend jemand versorgt Desmond Tiger mit Informationen über die Handlungen der Polizei, dazu schließe ich uns auch ein. Es gibt einen Verräter“, sprach Chris ernst. „Denkst du nicht, daß es dann zu gefährlich ist, einen von uns da rein zu schicken? Wenn Desmond Tiger über jeden einzelnen Schritt des FBIs und auch von uns Bescheid weiß, dann wird er Ezra sofort erkennen.“ „Du hast recht“, murmelte Chris. „Hast du einen Plan?“ „Leider nein. Ich mache mir Sorgen um Ezra. Er ist tot, wenn er jetzt rein geht“, sprach Vin sachlich. „Wir müssen den Verräter ausfindig machen“, sprach Chris. Vin nickte zustimmend. „Okay, sag J.D. und Nathan, sie sollen sich ein wenig umhören. Sie sollen den Maulwurf finden und entlarven. Und der Rest von uns ... arbeitet an der Sache mit Desmond Tiger weiter“, entschied Chris. Vin nickte leicht. Mit dieser Entscheidung seines besten Freundes hatte er schon gerechnet. Chris machte sich genauso viele Gedanken über diese Sache wie er selbst. Desmond Tiger war ein überaus gefährlicher Mann. Da so wenig über ihn bekannt war, stellte jeder von Team Seven sich die Frage, wie man diesen Mann entlarven sollte. „Es ist der schwerste Fall, den wir jemals übernommen haben“, murmelte Vin. „Es ist eine verfahrene Situation, Vin. Ehrlich gesagt, habe ich so meine Zweifel, daß dieser Fall so glatt ablaufen wird, wie das FBI sich das vorstellt.“ „Das sind doch Flaschen“, sprach Vin und drehte sich zu Chris um. „Die arbeiten seit Jahren daran und haben ihn nicht verhaften können. Sie haben in den letzten Jahren nur einige Agenten verloren. Du kennst doch das FBI! Uns wollen sie weismachen, wie leicht lösbar dieser Auftrag ist, aber sie haben in den letzten Jahren nichts getan, um Desmond Tiger ausfindig zu machen. Also, reg dich nicht darüber auf. Wenn jemand diesen Kerl in die Finger kriegt, dann wir. Wir werden ihn finden und aus dem Verkehr ziehen“, sprach Vin, nun schon optimistischer. Chris lehnte sich leicht in seinen Stuhl zurück. „Wenn wir diesen Kerl nicht kriegen ... wer dann, Vin? Schon alleine, um den FBI zu zeigen, wie gut wir sind, werden wir nicht versagen.“ „Denkst du wirklich, die warten darauf, daß du einen Fehler machst?“ wechselte Vin das Thema. Chris nickte bejahend. „Allerdings. Steven Care ist ... ein alter Bekannter. Er konnte mich noch nie leiden.“ „Warum? Was hast du ihm getan?“ fragte Vin nach. Ein leises Seufzen entrang sich aus Chris‘ Kehle. Sein Blick glitt zu dem Fotorahmen, der auf seinen Schreibtisch stand. Für einen Moment überkam ihn der Schmerz über den grausamen Tod seiner Familie aufs Neue. Dann schüttelte er leicht den Kopf und blickte Vin an. „Steven Care war der Agent, der damals an der Ermordung meiner Familie gearbeitet hat. Er sollte den Fall lösen. Ich bin mit ihm zusammen gekracht, weil ich ihm vorgeworfen habe, daß ihn die Auflösung dieses Mordes nicht sonderlich interessiert. Er drohte mir mit Gefängnis und sonstigem, weil ich mich einmischen wollte“, erzählte Chris. „Als er den Fall nicht lösen konnte, wurde er zu den Akten gelegt und Care hat nichts dagegen unternommen. Es war ihm völlig egal!“ „Hast du ihn verprügelt?“ Chris zuckte leicht mit den Schultern. „Ich wollte es tun, aber seine Kollegen vom FBI haben mich daran gehindert. Wäre ich mit diesen schmierigen FBI-Kerl allein gewesen, hätte er mehr als ein blaues Auge davon getragen.“ „Verstehe! Er hat sich nie besonders angestrengt, oder?“ „Nein, hat er nicht. Im Gegenteil: Er hat die Ermordung meiner Familie dafür benutzt, um auf der Karriereleiter weiter nach oben zu gelangen. Er war nie an der Auflösung interessiert, sondern immer nur daran, wieviel ihm dieser Fall für seine verdammte Karriere nutzt“, sprach Chris abfällig. „Er beobachtet dich also, um einen Grund zu finden, weshalb du gefeuert werden sollst?“ „Genau aus diesem Grund überwacht das FBI unsere Arbeit. Dieser Fall ist immens wichtig, Vin. Das FBI würde einen schlechten Ruf bekommen, wenn wir Desmond Tiger finden und sie es nicht geschafft haben, obwohl sie seit Jahren an diesen Fall arbeiten. Das würde das Ego des FBIs nicht verkraften“, meinte Chris und zuckte leicht mit den Schultern. „Irgendwann, Chris, wird man die Mörder von Sarah und Adam finden. Man wird diesen Fall eines Tages lösen“, sprach er aufmunternd. Chris erhob sich und blickte aus dem Fenster seines Büros. „Ich weiß nur nicht, ob ich solange warten kann. Ich will, daß diese Ungewißheit endlich vorbei ist, Vin. Ich will dem Mörder meiner Frau und meines Sohnes endlich in die Augen sehen“, sprach er leise. Vin klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Das wirst du. Du brauchst nur noch etwas Geduld“, versprach er seinem Boss, und er ließ ihn allein. Die Ermordung seiner Familie nagte noch sehr an Chris. Er hatte es nie überwunden – bis heute nicht. Und jeder aus dem Team wußte, Chris würde nicht eher ruhen, bevor er die Mörder von Sarah und Adam Larabee nicht gestellt und zur Verantwortung gezogen hatte. Zwei Stunden später Das Telefon im Büro von Erin klingelte. Mit einen Blick darauf sah sie, daß es ihre neutrale Leitung war. Sie hatte mehrere Telefonleitungen – aus Sicherheitsgründen. „Gillian McNeal“, meldete sie sich. „Mein Name ist John McFadden, ich arbeite beim U.S. Marshall Service. Ms. McNeal, Ihr Name taucht in der Akte von Justin Rosmond auf“, sprach der Mann am anderen Ende der Leitung. Ein plötzlicher Schock fuhr durch Erin. Sie schluckte schwer. Instinktiv wußte sie, warum der U.S. Marshall Service anrief. „Das kann sein“, sprach sie so gelassen wie möglich. „Wir rufen an, da Sie der einzige Besucher in den letzten Jahren von Justin Rosmond waren. Da seine Tochter nicht mehr lebt, scheinen Sie ihm am nächsten zu stehen.“ „Ich war eine gute Freundin seiner Tochter, die vor langer Zeit verstorben ist. Hat er Ihnen das nicht gesagt?“ „Nein, er redet grundsätzlich nicht mit uns. Aus den Besucherlisten des Gefängnisses sehe ich, daß Sie ihn ab und zu besucht haben, richtig?“ „Ja, das stimmt“, sprach Erin. „Seine Tochter war eine meiner besten Freundinnen, und ich dachte, ich schaue ab und zu nach ihrem Vater“, meinte Erin. „Nun, dann kann ich Ihnen ja sagen, daß Justin Rosmond am Freitag in einer Woche um eine Minute nach Mitternacht hingerichtet wird.“ „Was?“ rief Erin heftiger als beabsichtigt. Sie hatte es geahnt, doch nun war ihre Ahnung bestätigt worden. „Ja, er wird hingerichtet. Er sitzt seit achtzehn Jahren in der Todeszelle und ...“ „Ich weiß, wie lange er schon sitzt“, zischte Erin. „Nun, er hatte in den letzten Jahren nicht viel Besuch und wenn Sie dabei sein wollen ...“ „Ich danke Ihnen, daß Sie mir das mitgeteilt haben. Auf Wiedersehen“, sprach Erin, und sie beendete das Gespräch abrupt. Ihre Hand zitterte als sie den Hörer zurück auf die Gabel legte. In diesem Moment ging die Tür auf und Oliver trat ein. „Erin, es ...“ „Nicht jetzt, Oliver! Ich will jetzt nicht gestört werden“, sprach sie und wies ihn ab. Oliver blickte seine Chefin einen Moment an, dann fügte er sich ihr und ließ sie allein. Erin starrte auf die Oberfläche ihres Schreibtisches und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nun war es soweit. Man würde ihren Vater hinrichten. Nach achtzehn Jahren würde man Justin Rosmond wegen vorsätzlichen Mordes an mehreren Polizisten und Zivilisten töten. Erin war zehn gewesen, als die Polizei ihr Haus gestürmt und ihren Vater verhaftet hatte. Erst damals hatte sie wirklich erfahren, daß ihr Vater einer der größten Bosse der Unterwelt war. Doch für seine Verbrechen hatte man ihn endlich aufgespürt und verhaftet. Justin hatte seinen Geschäftspartner Vincent Cook angeordnet, sich um seine Tochter zu kümmern. Gemeinsam mit Vincent hatte Justin beschlossen, einen Autounfall vorzutäuschen, um Erin vor der Polizei zu schützen. Seit Jahren war Erin für die Polizei tot. Nur ab und zu besuchte sie ihren Vater im Gefängnis unter der Tarnung einer Freundin. Insgeheim hatte sie immer gehofft, daß ihm eines Tages die Flucht gelingen würde. Doch nun war es soweit. Ihr Vater würde sterben. Man würde ihn für seine Verbrechen hinrichten. Erin verließ ihr Büro und ging zu ihrem Schlafzimmer. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihren Vater. Justin Rosmond war der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Und erst als man ihm Handschellen angelegt hatte, hatte sie verstanden, was er wirklich tat. Erin hatte nie etwas anderes gelernt als das, was sie nun tat. Sie war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Doch nun würde man ihn hinrichten. Nach achtzehn Jahren sollte Justin Rosmond mit der Giftspritze getötet werden und die Angehörigen seiner Opfer sollten endlich Genugtuung erfahren.
~ 5. ~ „Du hättest nicht herkommen sollen“, sprach Justin Rosmond am nächsten Tag im Besucherraum des Bundesgefängnisses. Erin lächelte schwach. „Ich wollte dich noch einmal sehen.“ „Du weißt es also?“ stellte Justin sachlich fest. Erin nickte leicht. „Ja, ich weiß es. Wieso bist du nie ausgebrochen? Du könntest noch immer fliehen. Ich könnte dir dabei helfen“, sprach sie leise. Justin blickte sie einen Moment ruhig an, dann lächelte er. „Nein“, sprach er. „Wir wußten beide, daß dieser Tag kommen würde. Ich will, daß du nach diesem Besuch nicht mehr wieder kommst. Bleib zu Hause, wenn sie mich hinrichten“, sprach Justin. Heftig schüttelte Erin den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Ich will bei dir sein ... wenn du deinen letzten Weg gehst.“ Justin lächelte leicht. Seine Tochter war schon immer stur und eigensinnig gewesen. Er beugte sich leicht vor. „Nein, Erin“, flüsterte er. „Ich will nicht, daß du dabei bist. Du hast dein eigenes Leben; deine eigenen Geschäfte. Du weißt doch? Für mich lebt meine Tochter schon lange nicht mehr.“ „Du hieltest die Vortäuschung meines Todes für eine gute Idee“, warf sie ihm vor. „Das tue ich noch heute. Es war die einzige Möglichkeit, um dich vor der Polizei und vor meinen Feinden zu schützen. Immerhin bist du die Tochter eines der größten Bosse der Unterwelt“, sprach er. Schweigend blickten sie sich an. Justin sah ihr an, daß es ihr nicht leicht fiel. Er streckte die Hand aus und berührte sie leicht an der Wange. „Keine Berührungen“, sprach der Aufseher aus seiner Ecke sofort. Justin verdrehte die Augen und zog seine Hand wieder zurück. Traurig blickte Erin ihren Vater an. „Wie laufen deine Geschäfte?“ fragte er. Er wußte, wer sie war, und er war stolz darauf, daß sie die Polizei so auf Trab hielt und wie ein Phantom ihre Geschäfte erledigte. „Sie laufen gut. Laß mich dich hier rausholen“, bat sie. Justin schüttelte leicht den Kopf. „Nein! Ich werde diesen Weg gehen, mein Kind. Ich werde ihn allein gehen. Doch denk immer daran: Du bist meine Tochter. Ich bin stolz auf dich und ich liebe dich. Lebe dein Leben so weiter wie bisher. Du hast meinen Platz eingenommen und das freut mich. Doch du solltest jetzt gehen“, sprach er, und Erin wußte, er schickte sie für immer fort. Wenn sie ging, würde sie ihn nie wiedersehen. „Ich liebe dich, Dad“, flüsterte sie. „Ich weiß. Sei nicht traurig! Das ist nicht die Chefin eines Großunternehmens, die ich kenne. Vergiß nicht, wer du bist. Geh und führe deine Geschäfte fort. Dich wird die Polizei niemals kriegen! Du bist zu gut für sie. Und das macht mich stolz.“ Erin blickte ihrem Vater ein letztes Mal in die Augen, dann stand sie auf und ging. Als sie ihm den Rücken zuwandte, wußte Erin, wenn sie das nächste Mal von ihm hörte, würde man über den Tod von Justin Rosmond berichten. Als Gillian McNeal verließ sie das Gefängnis. Sie war allein gekommen. Diesen Weg hatte sie allein gehen wollen. Außerdem würde Oliver nur auffallen. Im Gefängnis kannte jeder sie nur als eine normale, junge Geschäftsfrau. Sie spielte mit jedem ein perfektes Katz- und Mausspiel. Erin blieb einen Moment stehen, als sich die Tore des Gefängnisses hinter ihr schlossen. Sie blickte nicht zurück. Sie hatte es ihrem Vater versprochen. Es sollte ihr letzter Besuch sein – ihr allerletzter. Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten. Für die Welt war Justin Rosmond nur ein Verbrecher, der hingerichtet gehörte. Doch für sie war er in allererster Linie ihr Vater. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Sie hatte diesen einen Augenblick – die Hinrichtung ihres Vaters – immer gefürchtet. Solange er im Gefängnis saß, hatte sie immer gewußt, daß er noch lebte. Doch jetzt ... schon bald würde ihr Vater sein Leben verlieren. Erin straffte ihre Schultern und ging die Straße hinunter. Sie hatte ihren Wagen nicht direkt vor dem Gefängnis geparkt, sondern am Ende der Straße. Eine einzelne, kleine Träne löste sich von ihrem Auge und rieselte die Wange hinab. Insgeheim nahm sie schon jetzt Abschied von ihrem Vater. Erin war so sehr in ihre trüben Gedanken versunken, daß sie nicht den Mann bemerkte, der um die Ecke bog. Vin sah nur noch einen Schatten, dann wurde er auch schon angerempelt und der Karton, den er in seinen Händen trug, glitt zu Boden. Oh nein, dachte er, als der Karton auf die Erde schlug und sich der Inhalt auf der Straße verstreute. „Können Sie nicht aufpassen?“ zischte er, und er bückte sich hastig nach den Unterlagen, die auf dem Gehweg herumlagen. In dem Karton befanden sich alte Akten, die er sich über einen Freund bei der Polizei verschafft hatte. Es waren die Akten vom Waffenhandel aus den letzten zehn Jahren. Vielleicht fand Team Seven etwas in diesen Akten, was ihnen weiterhalf, Desmond Tiger zu identifizieren. Wütend blickte Vin auf. Doch seine Wut verrauchte sofort als sein Blick die langen Beine hinauf glitt und an einem überaus hübschen Gesicht hängen blieb. Erin erkannte den Mann sofort. Er war Mitglied bei Team Seven. Ray hatte ihr von allen Agenten Fotos zukommen lassen und dieser hier war auch darunter gewesen. Doch an seinem Blick erkannte sie sofort, daß er keine Ahnung hatte, wer sie war. Woher hätte er das auch wissen sollen? Niemand bei der Polizei kannte ihre wahre Identität. Aus diesem Grund konnte dieser Agent auch nicht wissen, daß gerade Desmond Tiger vor ihm stand. Er sah in ihr nur eine hübsche, junge Frau. Er schöpfte keinen Verdacht, das sah sie ihm an. Vielleicht nützt er mir noch, dachte sie und beschloß, auf dieses Spiel – dessen Regeln sie bestimmte – einzugehen. Vielleicht konnte ihr dieser Agent noch helfen, ohne es zu wissen. Sie setzte ein kleines Lächeln auf und schluckte ihre Niedergeschlagenheit hinunter. Ihre Traurigkeit war sofort vergessen, und sie kümmerte sich wieder um die Dinge, die im Moment wichtig waren. Ihr Vater würde genau dasselbe tun und diese Reaktion auch von ihr erwarten. „Tut mir leid. Ich habe nicht aufgepaßt“, entschuldigte sie sich. „Kein Problem“, sprach Vin, und er erwiderte ihr Lächeln. Männer! Sie sind doch alle gleich, dachte Erin. Vin erhob sich und reichte ihr die Hand. „Mein Name ist Vin Tanner“, stellte er sich vor. „Gillian McNeal“, erwiderte Erin. Sein Händedruck war warm, aber fest. Sein Körper strahlte eine angenehme und vertraute Wärme aus. Doch Erin ließ sich davon nicht beeinflussen. Immerhin war dieser Mann Agent. Er war hinter ihr her, ohne es zu wissen. Und sie war gerade dabei, ihn in dieses kleine Spiel mit ein zu beziehen. Er nützte ihr lebend sicher mehr als tot. Also konnte sie ihn ruhig benutzen und so noch mehr über Team Seven herausfinden und ihre Aktivitäten, wie sie sie schnappen wollten. Dadurch war sie ihren Verfolgern noch einen Schritt voraus. „Ich hoffe, Sie haben sich nicht weh getan“, sprach Vin. „Nein. Ich habe Sie einfach nicht gesehen, Mr. Tanner. Tut mir leid“, sprach sie. „Es ist ja nichts geschehen“, erwiderte Vin, und er hob den Karton auf. Warum habe ich es ausgerechnet jetzt so eilig? dachte er. Erin sah ihm an, daß er sie gerne näher kennenlernen wollte. „Sagen Sie, Mr. Tanner, haben Sie Zeit für einen Kaffee? Sie sind auch eingeladen“, sprach sie mit einem Lächeln. „Tut mir leid. Ich habe im Moment keine Zeit“, meinte Vin zerknirscht. Daran ist nur Chris‘ Schuld! Immerhin hetzt er mich ja so durch die Gegend, weil er diese verdammten Akten haben will, dachte Vin spöttisch. „Oh ... schade! Aber ... wie wäre es zu einen späteren Zeitpunkt?“ schlug sie vor. „Nun, wenn Sie mir sagen, wo ich Sie erreiche ... rufe ich sicher an“, sprach Vin mit einen kleinen Lächeln. Erin holte eine Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. „Rufen Sie mich an! Ich bin jederzeit erreichbar“, sprach sie und ging an ihm vorbei. Vin blickte ihr nach. Er beobachtete ihren eleganten Gang ... es war, als würde sie schweben. Sie blieb bei einem schwarzen BMW stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln und stieg in ihren Wagen ein. Wenig später war sie auch schon verschwunden. Seufzend blickte Vin den Wagen nach, dann machte er sich wieder auf den Weg. Immerhin lag noch Arbeit vor ihm. Eine Traumfrau, dachte er, als er bei seinen Dienstwagen angekommen war. Er verstaute den Karton im Kofferraum und blickte auf die Karte, die seine neue Bekanntschaft ihm gegeben hatte. Die Karte wies sie als Immobilienmaklerin aus. Vin steckte die Karte in seine Hosentasche und setzte sich hinter das Steuer. Träumen konnte er später auch noch ... „Na endlich! Wo warst du denn solange?“ sprach Buck, als Vin das Büro betrat. „Tut mir leid, ich bin kein Schnellzug“, spottete Vin, und er stellte den Karton auf den nächstbesten Tisch ab. „Ist der Karton voller Akten?“ „Ja, was denkst du denn?“ gab Vin zurück. Chris kam gerade aus dem Büro und registrierte Vins Ankunft mit einen kurzen Nicken. „Sind das alle Akten?“ fragte er. „Ja, Chef, sind sie, und wenn du mich heute noch mal los schickst, jage ich dich zum Teufel“, sprach Vin. Chris sah über den bissigen Kommentar hinweg und teilte seine Leute ein. „Nehmt euch alle ein paar Akten und geht sie durch. Ich bezweifle zwar, daß wir wirklich etwas Brauchbares finden, aber man weiß ja nie. Vielleicht haben wir ja Glück“, sprach er. Seine Männer nickten und stellten sich auf einen langen, nicht endenwollenden Abend ein. Grimmig wurde auch Vin das klar. Dann kann ich mir heute Abend ein Date mit dieser schönen Lady abschminken, dachte er kopfschüttelnd. „Ähm ... Chris, kann ich dich kurz sprechen?“ meinte Vin. „Was ist los?“ fragte Chris sofort, der bemerkte, daß Vin etwas auf der Seele lag. „Brauchst du mich heute lange?“ fragte Vin unschuldig nach. „Eigentlich kann ich keinen einzigen von euch entbehren. Wieso fragst du? Hast du noch etwas vor? Wenn ja, sage es ab“, sprach Chris, und er nahm ein paar Akten an sich. „Chris, es ist so ...“, begann Vin. „Ich habe vor einer guten Stunde jemanden kennen gelernt. Wir reden hier nicht von einer normalen Frau, sondern von einer wahren Schönheit. Ich würde heute Abend gerne ...“ Chris blickte seinen Scharfschützen an und nickte wissend. „Du kannst um zehn Uhr abhauen“, sprach er. „Dies ist eine Ausnahme, da ich weiß, daß du nicht viele Verabredungen hast“, meinte er und ging in sein Büro. „Das war ja leichter, als ich dachte“, flüsterte Vin verwundert. „Du hast ein Date?“ fragte Buck neugierig. „Ja ... jedenfalls hoffe ich das“, sprach Vin, und er ging zum nächsten Telefon. Er zog die Karte heraus, die Erin ihm gegeben hatte, und wählte die Nummer, die darauf abgedruckt war. Oliver besprach mit Erin gerade eines ihrer Geschäfte als das Telefon klingelte. „Oliver, gehst du bitte ran?“ sprach sie, während sie sich einige Berichte durchlas. Dieser nickte und blickte kurz auf den Apparat, um zu sehen, auf welcher Leitung der Anruf rein kam. Dann hob er ab. „Maklerbüro Gillian McNeal, was kann ich für Sie tun?“ sprach er. Erin hob den Kopf als er ihren falschen Namen nannte. „Hier spricht Vin Tanner. Ich möchte gerne mit Gillian sprechen“, meinte der Agent. „Einen Moment“, sprach Oliver, und er hielt eine Hand auf die Muschel. „Vin Tanner“, flüsterte er und reichte Erin den Hörer. Erin hatte ihm kurz erzählt, was vorgefallen war, und ihr Plan, Vin Tanner für ihre Zwecke zu benutzen, war genial. Welcher Mann würde bei einer so bezaubernden Frau wie Erin auch Verdacht schöpfen? Nicht einmal ein Agent würde es merken, wenn sie ihm nicht die Wahrheit offenbaren würde. Und das würde kein Polizist oder Agent überleben. „Gillian McNeal“, sprach Erin, und sie deutete Oliver mit einer Handbewegung an, daß sie allein sein wollte. Er nickte leicht und verließ das Büro. „Hier ist Vin Tanner. Wir haben uns vor einer Stunde kennen gelernt.“ „Ich dachte nicht, daß es so schnell geht, Mr. Tanner.“ „Hören Sie: Ich kann um zehn Uhr hier weg. Wenn Sie dann noch Lust haben ...“ „Natürlich habe ich Lust! Was halten Sie von der Bar ‘Nights of Five‘?“ „Klingt gut! Ich kann um halb elf dort sein.“ „Gut, ich werde auf Sie warten“, sprach Erin, und sie legte auf. „Deinem Lächeln nach zu urteilen ... hast du dein Date?“ sprach Nathan. Vin nickte leicht und nahm neben Ezra mit einigen Akten Platz. „Allerdings! Und während ihr bis tief in die Nacht diese Akten durchsucht, werde ich mich um halb elf mit einer wunderschönen Frau treffen“, sprach Vin grinsend, und er vertiefte sich in die erste Akte, die er zur Hand hatte. Seine Freunde stöhnten leicht und murmelten etwas von „Das ist nicht fair“, aber sie beschwerten sich nicht weiter. Und Vin durchkämmte voller Vorfreude die Akten. „Glaubst du, er wird jemals etwas merken?“ fragte Oliver, der auf Erins Ruf wieder das Büro betreten hatte. „Niemals! Männer sind doch alle gleich. Vin Tanner hat keine Ahnung, daß er heute ein Date mit Desmond Tiger hat. Und ich gedenke, es dabei zu belassen. Aber der Junge kann uns noch nützlich werden! Durch ihn erfahre ich, was Team Seven genau gegen mich unternimmt.“ „Und dadurch wirst du noch unerreichbarer, als du es schon bist“, sprach Oliver. Erin nickte leicht. „Genau. Ich benutze Vin Tanner für meine Zwecke. Und wenn ich ihn nicht mehr brauche, dann töte ich ihn einfach und schicke seinen Freunde seine Leiche“, sprach sie gelassen mit einen leichten Grinsen. „Er wird mir blind vertrauen, und durch ihn werde ich alles erfahren, was Ray uns nicht mitteilen kann – weil er es nicht weiß. So habe ich zwei Informationsquellen bei der Polizei. Der Unterschied zwischen den Beiden ist nur ... daß der Eine es freiwillig macht und der Andere keine Ahnung davon hat, daß ich ihn für meine Zwecke mißbrauche“, sprach Erin, und sie lehnte sich in ihrem Polstersessel zurück. Die nächsten Wochen dürften äußerst interessant werden, dachte Erin. Vin hatte keine Ahnung, auf welch gefährliches Spiel er sich da einließ ...
~ 6. ~ Lokal
„Nights Of Five“, Erin hatte sich für diesen Abend zurecht gemacht, um den Agenten auch richtig zu betören. Sie hatte ihr langes Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden. Erin hatte sich für ein dunkelrotes Abendkleid entschieden, das ihr bis zu den Knien reichte und schulterfrei war. Dazu trug sie eine schwarze Stola. Geduldig saß sie am Tresen der Bar und wartete. Sie brauchte sich keine Sorgen machen. Erin wußte, daß er kommen würde. Vin strich sich noch einmal durch sein kurzes Haar und betrat dann die Bar. Er blickte sich suchend um. Sein letztes, richtiges Date war schon einige Jahre her, und er war etwas aus der Übung, was das betraf, aber er freute sich auf den Abend. Welcher Mann würde sich auch nicht auf einen Abend mit einer solch schönen Frau freuen? Das Lokal war um diese Zeit gut besucht. Vins Blick glitt über die Menge, und dann sah er sie. Sie saß lässig an der Bar und nippte an einem Cocktail. Vin atmete noch einmal tief durch und bahnte sich dann einen Weg durch die Menge. Erin sah ihm entgegen und schenkte ihm ein Lächeln. „Tut mir leid – wegen der Verspätung, aber ...“, begann Vin. „Kein Problem“, erwiderte Erin. „Ich bin noch nicht so lange hier.“ Vin setzte sich auf den Barhocker neben ihr und bestellte sich ein Bier. „Zuerst ... sollten wir auf das Du anstoßen“, schlug Erin vor. „Gerne.“ „Sag mir, Vin, was arbeitest du? Wer arbeitet um diese Zeit auch noch?“ „Ich ... bin Agent“, sprach Vin zögernd. Er wußte aus eigener Erfahrung, wie Frauen darauf reagierten. Das war auch der Grund, warum er es bei der ersten Verabredung nicht so gerne erzählte. „Oh ... Agent! Und wo arbeitest du?“ „Ich bin Mitglied eines Teams der ATF“, teilte er mit. „Wow! Das klingt ja spannend“, sprach Erin unwissend. „Dagegen ist mein Leben ja äußerst langweilig. Was tue ich schon als Imobilienmaklerin?“ Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Trägst du auch eine Waffe?“ „Ja.“ „Und wofür seid ihr zuständig?“ „Alkohol-, Tabak- und Waffenschmuggel ... hauptsächlich. Ich darf nicht zuviel verraten.“ „Verstehe! Geheime Operationen“, lächelte Erin. „So ungefähr“, lachte Vin. Erin betrachtete sein Profil. Für einen Agenten, der hinter ihr her war, war er ja recht niedlich. Er sah gut aus, aber er war nicht der einzige gutaussehende Agent, der ihr begegnet war. Es hatte schon einige vor ihm gegeben. Überlebt hat es letztendlich niemand, dachte Erin, und sie griff nach ihrem Drink. Zwei Stunden später Im Hintergrund spielte die Musik nur noch leise und im Laufe der Zeit leerte sich auch das Lokal. Erin und Vin hatten sich an einen Tisch zurück gezogen und unterhielten sich. Je länger ihr Date dauerte, desto vertrauter wurde ihr Verhältnis. Vin fühlte sich stark zu ihr hingezogen, ohne zu wissen, wem er wirklich gegenüber saß. Doch ihr aussichtsloser Fall Desmond Tiger rückte immer mehr in die Ferne. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dieser Frau, mit der er einen wunderschönen Abend verbrachte. Erin blickte auf ihre Uhr und gähnte leicht. „Vielleicht sollten wir langsam aufbrechen“, schlug Vin vor. „Eine gute Idee!“ pflichtete Erin ihm bei. Vin erhob sich und ging zur Theke, um zu bezahlen. Erin seufzte leise. Tief in sich verspürte sie ein Gefühl, das noch nie dagewesen war und das sie nicht richtig einordnen konnte. War es wirklich möglich, daß sie sich zu diesem Agenten hingezogen fühlte? Sie schüttelte leicht den Kopf. Das war so gut wie unmöglich. Er war ihr Feind und sie benutzte ihn nur. Sie konnte – durfte – nicht mehr empfinden. Doch sie mußte zugeben, daß Vin Tanner eine angenehme Gesellschaft war. Erin beobachtete ihn, wie er ihre Drinks bezahlte. Okay, er ist attraktiv, gab sie im Stillen zu. Mehr würde sich jedoch niemals entwickeln. Ihre Bekanntschaft mit Vin Tanner diente nur dazu, um an Informationen über Team Sevens Aktivitäten heran zu kommen. Vin steckte seine Geldbörse ein und kam an den Tisch zurück. Erin schenkte ihm ein Lächeln und erhob sich. „Soll ich dich noch nach Hause bringen?“ fragte Vin, als er sie zu ihrem Wagen begleitete. „Nein, das ist nicht nötig. Den Weg finde ich schon allein. Aber eine Einladung zum Essen würde ich gerne annehmen“, sprach sie. „Okay. Was hältst du von einen Abendessen?“ „Wo?“ „Bei mir?“ schlug Vin vor. Doch in derselben Sekunde fiel ihm ein, in welcher Gegend er wohnte, und hielt es für keine gute Idee mehr. „Nein, das sollten wir nicht tun.“ „Wieso nicht? Kannst du nicht kochen?“ „So ist es nicht, Gillian. Es ist nur ... ich wohne im schlechtesten Viertel von Denver“, gestand Vin. „Und?“ fragte Erin ruhig. Dies war das Viertel, wo sie ihre Geschäfte nachts erledigte. Sie kannte dieses Viertel wie ihre Westentasche. „Ich will dir das nicht zumuten“, sprach Vin. Und mir auch nicht, fügte er still hinzu. „Ach, das ist doch Blödsinn“, winkte Erin ab. „Ich würde gerne sehen, wie du lebst. Da spielt es keine Rolle, wo du lebst.“ „Bist du dir sicher?“ hakte Vin zweifelnd nach. „Natürlich. Wann soll ich bei dir sein?“ „Acht Uhr?“ „Ich werde da sein. Vorausgesetzt, du nennst mir die genaue Adresse.“ Vin lachte und nannte ihr seine Wohnanschrift. Einen Moment sahen sie sich schweigend an. Dann beschloß Erin, die Initiative zu übernehmen. Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn. Kurz war Vin überrascht, doch dann genoß er ihren zärtlichen Kuss. Er zog Erin näher an sich und küßte sie voller Leidenschaft. Ein kurzes Lächeln huschte über Erins Gesicht als sie sich von ihm löste. „Gute Nacht, Vin“, sprach sie verführerisch, dann stieg sie in ihren Wagen ein. „Gute Nacht“, sprach er leise, als er ihrem davonfahrenden Wagen nachsah. Gut gelaunt war Vin der erste, der am nächsten Morgen im Büro erschien. Er schnappte sich eine der Akten, die auf dem Stapel „Unerledigt“ lag, und begann mit der Arbeit. „Mr. Tanner ... so früh schon auf den Beinen?“ spottete Ezra, als er mit Buck und Josiah das Büro betrat. „Guten Morgen“, erwiderte Vin bloß. Buck beobachtete Vin einen Augenblick, dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht. „Du bist verliebt“, stellte er fest. „Was?“ Überrascht hob Vin den Kopf. „Dich hat es voll erwischt. Dein Date war also ein voller Erfolg?“ fragte Buck neugierig nach. Er nahm Vin gegenüber Platz. „Nun ... ich hatte einen schönen Abend, danke der Nachfrage.“ „Komm schon, Vin! Erzähl ein wenig“, forderte Buck seinen Freund und Kollegen auf. Vin seufzte und verdrehte die Augen. „Ich hatte einen schönen Abend; hab mich gut mit Gillian unterhalten und sehe sie wieder. Bist du jetzt zufrieden?“ „Gillian heißt die gute Dame also“, stellte Buck fest. „Ihr Name ist Gillian McNeal und ...“ Vin brach ab, als der Rest des Teams das Büro betrat. „Vin ist total verknallt“, platzte es aus Buck heraus. „Danke, Buck“, knurrte Vin, und er schlug die Akte auf, die er in der Hand hielt. „Habt ihr gestern noch etwas heraus gefunden?“ fragte Vin unbeteiligt. „Nein, gar nichts! Es ist wirklich frustrierend“, sprach Josiah seufzend. „Anderes Thema“, mischte sich Buck wieder ein. „Wann siehst du sie wieder?“ „Wen?“ „Na, deine Gillian!“ „Sie ist nicht meine Gillian.“ „Noch nicht“, gab Buck seinen Kollegen lachend zu verstehen. „Also, wann triffst du dich wieder mit ihr?“ „Heute Abend! Kann ich jetzt meine Arbeit erledigen?“ sprach Vin genervt. „Schon gut, schon gut! Ich wollte es nur wissen, da du ja schon seit Ewigkeiten keine richtige Verabredung mehr hattest.“ Ein finsterer Blick aus Vins Augen traf Buck. „Okay, ich hab verstanden! Ich halte ja schon meinen Mund“, sprach Buck mit einen leichten Schulterzucken. Chris, der gerade das Büro betrat, nickte seinen Leuten kurz zu, und sein Blick war für sie Aufforderung genug, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. „Wie war deine Verabredung?“ fragte er Vin, als dieser in seinem Büro erschien. „Sie war toll. Gillian ist ... eine wunderbare Frau“, schwärmte Vin. Chris hob spöttisch eine Augenbraue. „Was soll dieser Blick?“ „Du kennst die Lady noch nicht so lange.“ „Was spielt das für eine Rolle? Chris, als du Sarah begegnet bist, hast du da nicht auch sofort gewußt, daß sie die Frau deines Lebens ist?“ Chris nickte leicht. „Ich wußte es, als ich ihr das erste Mal in die Augen sah.“ „Siehst du? Ich hab dieses Gefühl bei Gillian. Ich glaube, sie könnte die Eine werden.“ „Die Eine?“ fragte Chris neugierig. „Ja, die Eine, die allein für mich bestimmt ist.“ Ein Lächeln huschte über Chris‘ Lippen. „Wann siehst du sie wieder?“ „Heute Abend. Sie will unbedingt meine Wohnung sehen.“ „Weiß Sie, in welcher Gegend du wohnst?“ „Ja, und es stört sie nicht“, sprach Vin lächelnd. „Na, dann wünsche ich dir viel Glück. Sie muß eine bemerkenswerte Frau sein, wenn sie dich so beeindruckt hat“, sprach Chris. „Ja, das ist sie. Gillian ist wunderbar. Ich hab das Gefühl, als würde ich sie schon eine Ewigkeit kennen“, erwiderte Vin. „Du solltest dich jetzt an die Arbeit machen, wenn du heute Abend noch ein Date hast.“ „Ich hab schon verstanden“, lächelte Vin, und er widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Recherchen über Desmond Tiger.
~ 7. ~ Abends, Vin sah sich noch einmal in seiner Wohnung um. Es sah einigermaßen aufgeräumt aus – jedenfalls soviel, wie man es von einen Junggesellen erwarten konnte. Da ertönte das Geräusch der Türklingel. Ein letztes Mal sah Vin sich um, dann ging er zur Tür und öffnete. „Du bist äußerst pünktlich, Gillian“, sprach er lächelnd. „Ich halte nicht viel davon, unpünktlich zu einem Termin – egal ob geschäftlich oder privat – zu erscheinen“, teilte Erin ihm mit. „Komm rein“, forderte er sie auf. Die Tür schloß sich hinter ihr und Erin blickte sich neugierig um. Vin lebte völlig anders als die anderen Agenten und Polizisten, die ihr bekannt waren. Die Gesetzeshüter, die sie kannte, lebten in vornehmen Apartments. Nicht so Vin. Seine Wohnung lag in einem Viertel, das kein braver Bürger dieser Stadt jemals freiwillig betreten würde – egal ob bei Tag oder Nacht. Vin beobachtete sie still, während sie sich in seiner Wohnung umsah. „Eine hübsche Wohnung – wenn man bedenkt, in welchen Viertel sie liegt“, sprach Erin schließlich. Sie drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Du brauchst es nicht beschönigen. Ich weiß selbst, wie ich lebe.“ „Nein, ich meine das ernst, Vin! Es gefällt mir hier.“ „Darf ich dir die Jacke abnehmen?“ „Natürlich.“ Erin zog ihre Jacke aus und reichte sie Vin. Was er sah, überwältigte ihn förmlich. Sie trug einen langen, schwarzen Rock und eine ärmellose, weiße Bluse dazu. „Du siehst toll aus“, sprach Vin angetan. „Danke. Es war meine Absicht, dich zu beeindrucken“, gab sie freimütig zu. „Mach es dir bequem. Willst du ein Glas Wein?“ schlug Vin vor. „Zu einem Glas Wein sage ich nie nein.“ Erin machte es sich auf dem schwarzen Sofa gemütlich. „Erzähl mir von deiner Familie“, bat Vin, während er ihr ein Glas Wein reichte. Für einen kurzen Moment wurde Erin ernst. In wenigen Tagen würde man ihren Vater hinrichten. Schon bald würde Justin Rosmond für all seine Verbrechen mit dem Tod bezahlen. Sie schluckte schwer und versuchte, sich ihre Trauer nicht anmerken zu lassen. „Ich ... habe meine Eltern verloren als ich zehn war“, erklärte sie ruhig. „Sie starben bei einem Autounfall.“ „Das tut mir leid.“ „Das muß es nicht. Es ist lange her. Und was ... ist mit dir?“ erkundigte sich Erin, obwohl sie sich in der Zwischenzeit über Vins Leben informiert hatte und seine ganze Geschichte kannte. Immerhin wollte sie wissen, mit wem sie es zu tun und welche Schwächen ihr Gegner hatte. Schwermütig seufzte Vin. „Ich wurde zur Waise als ich fünf Jahre alt war. Wie du siehst, verbindet uns etwas.“ „Es ist nicht nur dieses Schicksal, das uns verbindet, Agent Vin“, sprach Erin verführerisch. „Uns verbindet viel mehr.“ „Und was? Du kennst mich kaum. Du weißt nichts von mir und meinen Leben.“ „Das muß ich nicht. Aber ich sehe in deinen Augen, was du gerne mit mir machen würdest.“ „Gillian, wie ...“ Doch weiter kam Vin nicht, denn Erin stand auf und preßte leidenschaftlich ihre Lippen auf seine. Vin schlang seine Arme um sie und zog sie näher an sich heran. „Gillian, einen Moment“, flüsterte er. „Was?“ „Ich sollte nach dem Essen schauen, sonst steht meine Bude in Flammen.“ „Das wollen wir natürlich nicht“, spottete Erin amüsiert. Vin schenkte ihr ein leichtes Lächeln und eilte in die Küche. Am Herd brodelten die Nudeln für die Spaghetti vor sich hin. „Ehrlich gesagt ...“, sprach Erin hinter ihm. „... Habe ich im Moment wenig Lust auf ein Abendessen.“ „Tatsächlich? Und was willst du statt dessen machen?“ fragte Vin scheinbar ahnungslos. „Stell den Herd ab, Vin“, sprach sie bloß und kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Ziemlich direkt, die Frau. Worauf habe ich mich da eingelassen?“ flüsterte Vin kopfschüttelnd. Doch er konnte auch nicht abstreiten, daß er anbiß. Sie hatte den Köder ausgeworfen, und er reagierte darauf. „Anscheinend ist Gillian es gewohnt, den ersten Schritt zu tun“, überlegte Vin laut, als er den Herd abschaltete und die Kochtöpfe zur Seite stellte. Ihm war klar, daß das Essen kalt werden würde, aber das interessierte ihn im Moment nicht. Wie in Trance kam Erin im Wohnzimmer auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Ihre Lippen trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. Erin wußte, wie Männer auf sie reagierten, und nutzte ihre Schönheit schamlos aus, um an ihr gewünschtes Ziel zu kommen. Männer sind so berechenbar, dachte sie schadenfroh. Sie liebte es, mit dem Feuer zu spielen und Agenten hinters Licht zu führen, die hinter ihr her waren. „Kann ich dir wirklich vertrauen?“ flüsterte Vin an ihrem Ohr. Erin hob den Kopf und nickte leicht. Sie wußte, daß Vin – aufgrund seiner Vergangenheit – anderen schwer vertraute. „Natürlich kannst du das. Unsere Begegnung war Schicksal, Vin. Ich denke, du bist der Mann, nach dem ich mein Leben lang gesucht habe“, log sie überzeugend. Ein Lächeln huschte über Vins Gesicht, und er führte Erin in sein Schlafzimmer. Engumschlungen sanken sie auf das Bett zurück. Immer wieder trafen ihre Lippen zu leidenschaftlichen Küssen zusammen. Der Funke sprang sofort über. Langsam streichelten Vins Hände über ihren Körper; erkundeten ihn. Erin legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Sie genoß seine Zärtlichkeiten. Mit einer Handbewegung zog sie Vin noch näher an sich heran. Sie griff nach seinem Pullover und half Vin dabei, ihn auszuziehen. „Wow, ich bin beeindruckt“, flüsterte sie. „Was beeindruckt dich?“ „Ich wußte nicht, daß sich unter deiner Kleidung ein solch muskulöser Oberkörper verbirgt.“ „In meinem Job muß ich mich irgendwie fit halten“, lächelte Vin. „Das ist gut“, sprach Erin. Zart streichelten ihre Hände über seine Muskeln. „Bist du dir wirklich sicher, daß du das tun willst? Immerhin kennen wir uns erst eine so kurze Zeit“, gab Vin zu bedenken. Erin schüttelte leicht den Kopf. „Wir sind zu kurz auf dieser Welt, um uns über sowas Gedanken zu machen. Und keine Sorge – für die Verhütung hab ich schon gesorgt“, sprach Erin schlagfertig. Sie schenkte Vin ein verführerisches Lächeln. Wieder beugte sich Vin zu ihr und preßte leidenschaftlich seine Lippen auf ihre. Er zog sie eng zu sich; wollte sie so nah wie möglich bei sich spüren. Gegenseitig zogen sie sich aus und warfen die Kleidungsstücke achtlos auf den Boden. Die Flamme der Leidenschaft brannte tief in ihnen. Sie hielt sowohl Vin wie auch Erin gefangen. Erin ließ sich von diesen wunderbaren Gefühl treiben. Die Zeit schien stillzustehen, als sich der Agent und sein Zielobjekt Desmond Tiger liebten. Vin lernte eine Leidenschaft und Lust kennen, die er früher nicht gekannt hatte. Erin zeigte ihm, was wahres Begehren wirklich bedeutete. Die Nacht war geprägt von Leidenschaft und erotischer Spannung zwischen ihnen ... Erin hörte es klingeln und öffnete irritiert die Augen. Verschlafen tastete Vin nach seinen Handy. „Ja?“ sprach er, ohne dabei die Augen zu öffnen. Er gähnte herzhaft. „Vin, bist du das?“ fragte J.D. irritiert. Vins Stimme hörte sich so fremd an, daß er zunächst glaubte, die falsche Nummer erwischt zu haben. „Ja, J.D., ich bin es. Zuerst aber guten Morgen“, sprach Vin, und er stützte sich auf einen Ellbogen ab. Mit einer Hand rieb sich Vin über die müden Augen. Noch im Halbschlaf blickte er auf seinen Wecker. Es war kurz nach sieben Uhr. „Was zum Henker willst du um diese Uhrzeit?“ fragte Vin wütend. „Ich rufe in Chris‘ Auftrag an. Es scheint, als hätte er etwas gefunden im Fall Desmond Tiger. Er hat mich angewiesen, das gesamte Team anzurufen und alle ins Büro zu beordern“, erklärte der Jüngste von Team Seven. „Jetzt?“ rief Vin, und er war schlagartig hellwach. Vins Blick glitt zu der hübschen Frau neben sich. Aufmerksam beobachtete Erin ihn, während ihre Finger langsam über seine nackte Brust glitten. „Ja, jetzt. Chris sagt, es wäre sehr wichtig.“ „Muß das sein?“ stöhnte Vin. „Ja, es muß. Ich kann dir nur das sagen, was Chris mir mitgeteilt hat. In einer Stunde müssen alle im Büro sein. Tut mir leid, wenn ich dich störe, aber ...“ „Schon gut! Ich bin unterwegs“, sprach Vin, und er legte auf. „Du mußt los?“ fragte Erin neugierig. „Ja. Anscheinend geht es in unserem Fall weiter. Jedenfalls scheint Chris Larabee, mein Chef, etwas heraus gefunden zu haben, was uns ein Stück weiterhilft.“ „Verstehe! Mußt du sofort weg?“ „Tut mir leid, Gillian, aber ja“, sprach Vin, und er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen. „Ich werde jetzt schnell unter die Dusche gehen, und dann muß ich los.“ Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich auf Erins Lippen. „Was ist?“ „Ich komme mit unter die Dusche.“ Ein wissendes Lächeln huschte über Vins Gesicht. „Wenn du das tust, komme ich erst heute abend ins Büro.“ „Ach was! Ich sorge nur dafür, daß dein Tag gut anfängt, Vin“, widersprach Erin, und sie stieg aus dem Bett. Sie wickelte sich die Bettdecke um und ging ins Badezimmer. Mit einem auffordernden Blick sah sie Vin an. Er lachte und schüttelte leicht den Kopf. Diese Frau war wirklich für eine Überraschung gut. Noch nie war er mit einer Frau zusammen gewesen, die so spontan und direkt war wie sie. Ihre Art gefiel ihm. Es faszinierte ihn zu sehen, wie sie das Leben sah und es nach ihren Vorstellungen gestaltete. „Ich werde zu spät kommen“, murmelte er, dann erhob er sich und folgte Erin ins Badezimmer. Eine Stunde später„Sind alle da?“ fragte Chris kurz angebunden. „Wie wäre es mit einem guten Morgen und einer Entschuldigung, daß du uns so früh aus dem Bett holst?“ spottete Buck müde. Ein wütender Blick Chris‘ traf ihn. „Ich will es ja nur einmal erwähnt haben.“ „Können wir endlich anfangen? Ich habe heute noch was vor“, warf Vin ein. „Du siehst ziemlich kaputt aus. Was hast du denn so getrieben – letzte Nacht?“ fragte Buck vielsagend. Lautes Gelächter ging durch die Runde. „Mein Privatleben geht euch nichts an“, zischte Vin. „Würdet ihr bitte eure Aufmerksamkeit auf unseren Fall lenken und nicht auf Vins Liebesleben?“ rief Chris ungehalten. Augenblicklich verstummte das Gelächter, und die Agenten setzten sich aufrecht hin. Langsam verschwand ihre Müdigkeit, und sie waren hochkonzentriert, um Chris‘ Vortrag zu lauschen. „Die Leiche des FBI-Agenten Simon Belmont wurde gefunden“, brachte Chris die Sache sofort auf den Punkt. „Ist das nicht der Agent, der als letzter undercover recherchiert hat?“ hakte Josiah nach. „Genau der. Seine Leiche wurde gegen halb zwei Uhr morgens in der Nähe des Busbahnhofes gefunden.“ „Und was wissen wir schon über die Todesursache?“ erkundigte sich Ezra fachkundig. „Nach ersten Erkenntnissen des Gerichtsmediziners wurde er erschossen“, teilte Chris seinen Team mit. „Weiß Steven Care vom FBI schon Bescheid?“ „Ja, das FBI weiß schon davon. Die Zuständigkeit liegt allerdings bei uns, da Simon Belmont von Desmond Tiger ermordet wurde. Der Gerichtsmediziner Dr. Tim Jefferson hat die Kugel entfernt und sie mir gegeben.“ „Und?“ „Es ist keine amerikanische Marke“, sprach Chris und legte eine durchsichtige Plastiktüte auf den Tisch. Darin lag das Geschoß, daß den FBI-Agenten tödlich getroffen hatte. „Was kannst du mir über die Kugel sagen, Vin?“ fragte Chris seinen Scharfschützen. Vin nahm die Plastiktüte an sich und studierte die Kugel eingehend. „Das ist ein russisches Kaliber; ziemlich selten hierzulande. Kaum ein amerikanischer Krimineller verwendet die. Auch, wenn Desmond Tiger diese Kugel verwendet, heißt das nicht, daß er Russe ist.“ „Da stimme ich Vin bei“, mischte sich Josiah, der Profiler des Teams ein. „Der Junge ist schlau.“ „Wieso?“ „Weil er weiß, mit einer solchen Kugel können wir wenig anfangen.“ „Da hat Josiah recht. Diese Kugeln werden in Russland hergestellt. Die amerikanische Polizei hat wenig mit diesen Kaliber zu tun; weiß auch kaum etwas über sie. Das Einzige, das ich weiß, ist, daß diese Kugeln eine unglaubliche Durchschlagskraft haben. Mehr ist darüber nicht bekannt. Eigentlich sind sie schon vor Jahren vom Markt genommen worden, aber in der Unterwelt der Verbrecher bekommst du alles – wenn du das Geld dafür hast“, sprach Vin bitter. „Okay, Josiah, was denkst du über unseren Freund?“ „Ziemlich clever; scheint sich für ein Phantom zu halten. Nun, überdurchschnittliche Intelligenz dürfte er schon besitzen, ansonsten könnte er die Polizei nicht so vorführen. Das mit den russischen Kugeln könnte nur ein Trick sein, um uns auf eine falsche Fährte zu locken. Ich denke, er hat einige Leute um sich, die seine Befehle ohne zu fragen durchführen. Sie sehen zu ihm auf und glauben alles, was er ihnen erzählt. Er kann gut manipulieren und bezieht seine Informationen direkt bei der polizeilichen Quelle.“ „Der Maulwurf“, sprach Chris. „Ja, irgendwo ist eine undichte Stelle. Aber ich bezweifle, daß dieser Kerl weiß, wer Desmond Tiger ist. Er wird ihn nie gesehen haben; wird immer nur über einen dritten mit Tiger verhandeln. Desmond Tiger ist ein Kapitel für sich. Er fällt in keine direkte Kategorie. Man kann ihn nicht irgendwo zuordnen und ein Profil über ihn erstellen. Das ist nicht möglich. Und genau das macht es uns allen so schwer, ihn ausfindig zu machen“, schloß Josiah seine Erklärungen. „Okay, redet noch einmal mit dem FBI und allen Polizisten, die jemals an diesem Fall gearbeitet haben.“ „Das ist doch sinnlos, Chris“, warf Nathan ein. „Ich weiß. Aber die Akten haben uns nicht weiter gebracht. Ich will endlich Ergebnisse sehen.“ „Wir jagen ein Phantom“, murmelte Ezra. „Das ist mir klar, verdammt!“, rief Chris wütend, und er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir werden nicht scheitern. In zwei Wochen schicke ich dich rein, Ezra. Und dann mußt du eine Ahnung haben, mit wem wir es hier zu tun haben. Ich kann dich da nicht völlig ahnungslos und blind rein schicken, verstehst du? Macht euch an die Arbeit. Wir werden solange Überstunden schieben, bis wir etwas gefunden haben. Legt mir Ergebnisse auf den Tisch“, forderte Chris scharf. Die Männer nickten leicht und verließen den Konferenzraum. Langsam, aber sicher zerrte dieser Fall an Chris‘ Nerven. Zur selben Zeit hatte Erin ein Frühstück genossen und sich angezogen. Sie war noch in Vins Wohnung und durchsuchte diese. Doch sie fand keine Hinweise auf ihren Fall. Erin zog ihr Handy hervor und rief Oliver an. „Nun, hat unser kleiner Agent angebissen?“ fragte Oliver grinsend. „Ja, hat er. Er hat heute morgen einen Anruf von seinem Team bekommen. Etwas muß passiert sein.“ „Sie haben die Leiche von Belmont gefunden“, teilte Oliver ihr freimütig mit. „Gut, das wurde auch Zeit. In der Zwischenzeit dürften sie auch erfahren haben, daß Belmont mit einer russischen Kugel getötet wurde. Das wird ihnen wieder Rätsel aufgeben und ihnen die Arbeit noch schwerer machen“, lächelte Erin zufrieden. „Kommst du dann nach Hause? Madison Clarke hat angerufen. Er will mit dir über eine neue Lieferung sprechen.“ „Ja, ich bin bald da. Vereinbare einen Termin mit Clarke, und dann kannst du damit anfangen, Tanners Telefon zu überwachen. Der Sender sitzt perfekt“, wies Erin ihre rechte Hand an. „Ich hab verstanden. Wie war die Nacht?“ „Auch wenn sie meine Feinde sind, man muß ihnen lassen, gut im Bett zu sein“, lachte Erin leise. Sie griff nach der Fernbedienung des Fernsehers und schaltete ihn ein. Augenblicklich erstarrte sie, als über das Fernsehgerät das Foto ihres Vaters flimmerte. Die Nachrichten zeigten einen Bericht über die baldige Hinrichtung von Justin Rosmond. „Erin?“ fragte Oliver besorgt. Er konnte ihre plötzliche Anspannung förmlich durch das Telefon spüren. „Erledige meine Befehle. Ich bin bald da“, murmelte sie und legte auf. Gebannt starrte Erin auf den Fernseher. Die Reporterin, die im Vordergrund stand, erzählte gerade warum Justin Rosmond hingerichtet werden sollte. Nach ihrer Ansprache wurde ein Bericht über die Verbrechen von Erins Vater gezeigt. „Dad“, flüsterte Erin betroffen. Sie schluckte schwer und konnte ihre Tränen nur mit Mühe zurückhalten. Sie wußte, bald würde es soweit sein. Erin straffte ihre Schultern und wischte sich die Tränen aus den Gesicht. Ihr Vater würde das nicht wollen. Er erwartete von ihr, daß sie ihre Geschäfte fortführte und weiter ein Rätsel für die Polizei blieb. Justin Rosmond erwartete von seiner Tochter, daß sie seiner Hinrichtung stark entgegensah und sich davon nicht beeinflussen ließ. „Ich werde mein Bestes tun“, flüsterte Erin, dann verließ sie Vins Wohnung. Immerhin hatte sie als Desmond Tiger noch Geschäfte abzuschließen.
~ 8. ~ Freitag, Erin hatte Vin regelrecht den Kopf verdreht. In ihrer Nähe konnte er kaum klar denken. Wenn sie bei ihm war, geriet der Fall Desmond Tiger regelrecht in Vergessenheit. Vin hatte keine Ahnung, daß sie ihn überwachte. Seine ganzen Telefongespräche – egal ob Handy oder Festnetz – wurden von Erin und ihren Leuten überwacht. So bekam sie mehr über Team Sevens Recherchen mit, als es ihnen lieb war. Dadurch war sie über jeden einzelnen Schritt von Team Seven informiert. Mit ernster Miene lauschte Erin dem Bericht des Nachrichtensenders über die Hinrichtung ihres Vaters. Sie blickte auf ihre Uhr. In drei Stunden würde er sterben. Vin beobachtete sie. Er sah ihr an, daß etwas nicht mit ihr stimmte. Irgend etwas beschäftigte sie schon den ganzen Tag. Doch Erin war nicht bereit, ausgerechnet mit einem Agenten ihren tiefen, inneren Schmerz zu teilen. Außerdem würde es sie entlarven, wenn sie es ihm sagte. „Es wird Zeit, daß er hingerichtet wird“, sprach Vin hinter ihr. Ruckartig hob Erin den Kopf. „Was?“ „Justin Rosmond – es wird Zeit, daß er für seine Verbrechen bezahlt. Er saß achtzehn Jahre im Gefängnis. Meiner Meinung nach sitzt er schon zu lange.“ „Wie kannst du das sagen?“ sprach Erin schärfer als beabsichtigt. Irritiert blickte Vin sie an. Was war auf einmal mit ihr los? „Entschuldige, Gillian, aber er hat Polizisten und Agenten sowie unschuldige Menschen getötet. Dieser Mann war eine Größe in der Unterwelt. Er hat sich in seinen eigenen Reihen Feinde gemacht. Irgendwie genauso wie Desmond Tiger.“ Nun wurde Erin hellhörig. „Ist das der Fall, an dem ihr im Moment arbeitet?“ Vin nickte leicht. „Ein schweres Kaliber, der Mann. Aber wir werden ihn schon aus den Verkehr ziehen. Immerhin sagt man uns nicht umsonst nach, daß wir jeden – noch so schweren - Fall lösen können“, sprach Vin zuversichtlich. „Verstehe!“ „Warum siehst du dir das überhaupt an? Du kennst den Kerl doch gar nicht und ... er bekommt endlich seine gerechte Strafe.“ Über Erins Lippen huschte ein kleines Lächeln. Sie durfte sich ihre innere Anspannung wegen der Hinrichtung ihres Vaters nicht anmerken lassen. Ihr seltsames Verhalten würde Vin nur mißtrauisch machen. Und er durfte nicht hinter ihr Geheimnis kommen. Kurz vor Mitternacht schlief Vin tief und fest. Erin jedoch fand keine Ruhe. Sie zog sich ein Hemd von Vin an und setzte sich in einen Polstersessel vor den großen Fenstern. Erin zog die Knie an und blickte in die sternenklare Nacht hinaus. Sie schluckte schwer. Als sie auf die Uhr blickte, war es eine Minute nach Mitternacht. Es war vorbei. Ihr Vater lebte nicht mehr. „Leb wohl, Dad“, murmelte sie. Leise rieselten Tränen über ihr Gesicht. Sie konnte sie nicht unterdrücken. Schmerz durchfuhr ihren Körper und ließ sie regelrecht erzittern. Sie spürte die Trauer, die sich in ihr breit machte. Nun begriff sie, was wirklich geschehen war. Erin grub ihr Gesicht in ihre Hände und weinte leise vor sich hin. Ihr Vater war nun tot. Für seine Verbrechen hatte er mit dem Leben bezahlt. Da legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter. „Gillian?“ Erin sah auf. Besorgt blickte Vin sie an. Er sah ihre Tränen. „Was ist los? Wieso weinst du?“ Leicht schüttelte Erin den Kopf. Sie konnte nicht darüber sprechen. In diesen Augenblick fühlte sie sich jedoch nicht wie ein gerissener Waffenhändler, sondern wie eine verletzliche, allein gelassene Tochter, die soeben ihren Vater verloren hatte. „Gillian, was bedrückt dich?“ hakte Vin nach. Erin griff haltsuchend nach seiner Hand. „Frag nicht, Vin“, bat sie leise. „Wieso nicht? Ich merke doch, daß schon den ganzen Tag über etwas nicht mit dir stimmt. Etwas beschäftigt dich. Ich mache mir Sorgen, Gillian. Also, sag mir, was los ist“, sprach Vin sanft, und er setzte sich zu ihr. Erin blickte ihn kurz an und schüttelte verneinend den Kopf. „Es muß doch seinen Grund haben, warum du hier im Dunkeln sitzt und weinst.“ „Vin ... fragt nicht! Du würdest es nicht verstehen. Bitte, bleib einfach hier und halt mich fest“, murmelte Erin mit zitternder Stimme. Wortlos legte Vin ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Was immer es ist, es wird alles wieder gut“, versprach er ihr. Er ließ Erin an seiner Schulter weinen. Besänftigend strich er ihr über den Rücken. Vin spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Besorgt hielt er sie in seinen Armen und hakte nicht weiter nach, was sie so mitnahm. Erin klammerte sich an ihn und ließ ihrem Schmerz freien Lauf. Nun hatte sie ihren Vater endgültig verloren. Sie hatten ihn hingerichtet. Es war vorbei. Justin Rosmond hatte für all seine Verbrechen bezahlt. Die Familien seiner Opfer hatten endlich Gerechtigkeit gefunden. Doch Erin hatte ihren geliebten Vater verloren. Und sein Tod traf sie doch härter, als sie es sich selbst glauben lassen wollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Erin froh, einer solchen Situation nicht allein gegenüber zu stehen. „Wenn du mir sagst, was dich bedrückt, kann ich dir auch besser helfen“, flüsterte Vin an ihren Ohr. Doch Erin schüttelte nur verneinend den Kopf. Zögernd befreite sie sich aus Vins Umarmung. Als sie ihm in die Augen blickte, sah sie, daß er sich ernsthafte Sorgen um sie machte. „Ich kann es dir nicht sagen“, murmelte sie und stand auf. Erin blickte aus seinem großen Wohnzimmerfenster. Sie blickte zu den Sternen. „Gillian, vertraust du mir nicht? Glaubst du, daß ich dir nicht helfen kann?“ „Du weißt nicht alles von mir“, murmelte sie kaum hörbar. „Jeder hat seine Geheimnisse“, sprach Vin mit einen leichten Schulterzucken. Erin warf ihm einen kurzen Blick zu. „Vin, ich ...“ „Bitte, sag mir, was los ist. Ich kann es nicht sehen, wenn du weinst“, sprach er. Erin schluckte schwer. Sie spürte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. Am dunklen Nachthimmel tauchte eine Sternschnuppe auf. Dad, sprach Erin im Stillen. Sie wandte ihren Blick ab und sah Vin an. „Ich ... habe heute einen Menschen verloren, den ich sehr geliebt habe“, gestand sie mit leiser, zitternder Stimme. Ihr war nicht klar, wie verzweifelt sie aussah. Vin nickte verständnisvoll und kam zu ihr. Er zog sie in seine Arme und drückte sie sanft an sich. „Ich verstehe“, murmelte er. „Er hat mir sehr viel bedeutet“, sprach Erin unter ihren Tränen. „Es tut mir leid“, sprach Vin aufrichtig. In seinem Leben gab es nicht viele Menschen, die ihm viel bedeuteten. Doch diese Frau war ihm sehr wichtig, und er konnte es nicht ertragen, sie so tief verletzt zu erleben. Ein paar Tage späterOliver hatte Erin zum Friedhof gefahren, wo Justin Rosmond beerdigt wurde. Erin hatte Oliver damit beauftragt, die Beerdigung ihres Vaters zu übernehmen. Anonym hatte man seine Leiche in ein Bestattungsunternehmen gebracht und ihm ein kostspieliges Grab organisiert. Erin wollte nicht, daß irgend jemand erfuhr, von wem der als Polizistenmörder bekannte Justin Rosmond beerdigt wurde. Und nun stand sie vor dem Grab ihres Vaters. Oliver stand neben ihr und hielt einen Regenschirm über seine Chefin, da ein heftiger Regen auf die Erde nieder prasselte. Doch Erin schien den Regen nicht einmal wahrzunehmen. Erin seufzte schwer und blickte auf den schlichten Grabstein ihres Vaters. Noch immer konnte sie nicht glauben, daß er wirklich tot war. Sie hatten ihn tatsächlich hingerichtet. Erin kniete sich nieder und legte eine einzelne, weiße Rose auf sein Grab. „Hättest du mich doch nur gebeten, dich aus dem Gefängnis zu holen. Ich hätte es sofort getan. Dann würdest du jetzt noch leben“, flüsterte sie. Mit starren Gesichtsausdruck blickte sie auf das Grab. „Ich liebe dich, Dad. Ich habe es dir nie gesagt, aber ich bin stolz, deine Tochter zu sein. Und ich werde meine Geschäfte so weiterführen, wie du es wolltest. Leb wohl.“ Erin erhob sich und zog ihren Hut, den sie trug, noch tiefer ins Gesicht. Sie wollte nicht, daß irgend jemand ihre Tränen sah. „Laß uns gehen, Oliver“, flüsterte sie. Oliver nickte und ging neben ihr her zurück zum Wagen. Auch Oliver trauerte um den Vater seiner Chefin. Er hatte ihn zwar nicht persönlich gekannt, aber er hatte Justin Rosmond respektiert. Leicht legte Oliver ihr einen Arm um die Schulter. Der stumme Trost schien Erin ein wenig zu beruhigen. Wortlos stieg Erin in den Wagen ein und ließ sich in die Sitze gleiten. Oliver startete den Wagen und entfernte sich vom Friedhof. Er wußte, Erin würde nie mehr ein Wort über ihren Vater und dessen Tod verlieren. Dies hier war ein endgültiger Abschied für sie gewesen.
~ 9. ~ „Chris, ich glaube, ich hab etwas gefunden“, rief Buck durch die ganzen Büroräume. Chris kam aus seinem Büro. „Was?“ Buck reichte ihm ein paar Ausdrucke. „Das sind die Telefonlisten der vergangen Tage.“ „Und?“ „Ein gewisser Officer Ray Elliott vom FBI wurde ein paar Mal von einer Nummer angerufen, die man nicht zurück verfolgen kann. Und auch er hat diese Nummer einige Male gewählt. Außerdem ...“ Buck fischte ein weiteres Dokument aus dem Chaos auf seinem Schreibtisch heraus. „... Außerdem hat unser lieber Ray Elliott ein Konto in der Schweiz.“ „Wofür braucht ein Polizist ein Konto in der Schweiz?“ sprach Ezra hellhörig. „Für Geld, das nicht sein Lohn ist“, meinte Chris. „Was denkst du?“ hakte Vin nach. „Wir haben ihn. Ray Elliott ist der Maulwurf. Er ist unser Mann. Josiah und Nathan, ihr fahrt sofort zur Polizei und bringt ihn zum Verhör her.“ Josiah nickte leicht und griff nach den Autoschlüsseln. Dann machte er sich mit Ray auf den Weg. Eine halbe Stunde später Josiah und Nathan betraten das Hauptgebäude des FBIs in Denver. Am Eingang zeigten sie ihre Ausweise und fragten nach Ray Elliott. „Sein Büro befindet sich im dritten Stock“, teilte der Polizist ihnen mit. „Danke.“ Josiah und Nathan entschieden sich, den Lift in den dritten Stock zu nehmen. „Hoffentlich laufen wir nicht Steven Care über den Weg“, murmelte Nathan als der Lift im dritten Stockwerk hielt. „Das hoffe ich auch. Dem wird es sicher nicht gefallen, daß wir einen seiner Agenten verdächtigten, Informationen an Desmond Tiger weiterzugeben“, meinte Josiah und blickte sich die Schilder vor den Büros an. Schließlich standen sie vor Ray Elliotts Büro. Josiah klopfte an die Tür und öffnete sie. Ein Mann sah von seinem Schreibtisch auf. „Ja, kann ich Ihnen helfen?“ fragte er. „Wir sind von der ATF“, stellte Josiah sich vor und zeigte ihm den Ausweis. „Wir sind Mitglieder von Team Seven und arbeiten im Moment am Fall Desmond Tiger.“ Nathan beobachtete den Mann, wie er leicht bei der Erwähnung dieses Namens zusammenzuckte. Er warf Josiah einen wissenden Blick zu und nickte leicht. Dieser verstand und näherte sich dem Schreibtisch. „Was hat das mit mir zu tun?“ fragte Ray unschuldig. „Ich denke, Sie wissen sehr gut, was wir hier wollen. Ray Elliott, wir fordern Sie auf, mitzukommen. Sie werden verdächtigt, polizeiliche Informationen an Desmond Tiger weiterzugeben.“ „Das ist doch Unsinn! Ich habe nichts getan“, widersprach Ray energisch. „Sie sind verhaftet“, erklärte Josiah ihm und holte Handschellen hervor, die er dem Mann anlegte. „Sie täuschen sich! Ich habe nichts Unrechtes getan“, sprach Ray energisch, als die beiden ATF-Agenten ihn aus dem Büro brachten. Unter den überraschten und betroffenen Mienen seiner FBI-Kollegen wurde Ray aus dem Gebäude zu einem ATF-Dienstwagen geführt. Sie verfrachteten ihn darin und brachten ihn in ihr Hauptquartier. Chris würde sich freuen, den Verräter verhören zu dürfen. Wenig später saß Ray im Verhörraum des ATF-Teams und trommelte nervös mit seinen Fingern auf der Tischplatte herum. Das Team ließ ihn ein wenig schmoren. „Okay, dann fangen wir an“, sprach Chris, und er ging voran. Buck und Vin folgten ihm. Der Rest würde den Gespräch hinter der Scheibe verfolgen. „Wie lange sind Sie schon beim FBI?“ fragte Chris. Ray blickte ihn unsicher an. Er wußte, daß man sich mit einem Chris Larabee besser nicht anlegte. Und Ray wußte, daß er aufgeflogen war. Dieses Team war wirklich verdammt gut. Sie hatten heraus gefunden, wer Desmond Tiger mit Informationen versorgte. Ich bin erledigt, dachte Ray kopfschüttelnd. „Seit fünfzehn Jahren“, beantwortete Ray schließlich die Frage seines Gegenübers mit zitternden Stimme. „Fünfzehn Jahre und Sie versauen sich Ihre Karriere auf eine solche Art? Warum haben Sie das getan? Brauchen Sie wirklich so dringend Geld, Mr. Elliott?“ sprach Chris spöttisch. „Mr. Larabee, ich ... ich bin drei Mal geschieden. Ich habe für den Unterhalt von drei Ex-Frauen und fünf Kinder zu sorgen. Da komme ich mit meinem Gehalt des FBIs nicht weit.“ „Sie haben Informationen an Desmond Tiger weiter gegeben, und das ist Ihre einzige Entschuldigung?“ schrie Chris ungehalten los. Ray zuckte unter dem harten Tonfall zusammen. „Ich ... ich weiß, daß es falsch war, aber das Angebot ... es war so verlockend“, sprach er mit weinerlicher Stimme. „Sie gestehen also?“ „Ja, ich habe geheime Informationen an Desmond Tiger weitergegeben“, brach es aus Ray heraus. „Vielleicht hilft Ihnen das Geständnis ja ein mildes Urteil zu bekommen. Aber es gibt eine Frage, die uns beschäftigt. Wer ist Desmond Tiger?“ Ray zuckte leicht mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich habe selten mit ihm selbst telefoniert, meistens nur mit seinen Assistenten. Das wurde über ihn geregelt. Aber ... ich weiß, daß heute abend eine Lieferung fällig ist“, sprach Ray in dem verzweifelten Versuch, seinen Kopf aus der Schlinge zu befreien, die sich immer enger um ihn schloß. „Eine Lieferung? Wann und wo?“ fragte Vin energisch. „Es ist ein Handel mit einem asiatischen Waffenhändler. Desmond Tiger liefert, glaube ich, mehr als fünf Kisten Handwaffen. Der Deal geht um Mitternacht über die Bühne, in einer alten Lagerhalle am Hafen.“ „Welche Lagerhalle?“ „Sie hat einmal einer Lebensmittelfabrik gehört. Es ist die größte, Nummer acht, die letzte“, teilte Ray ihnen mit. „Führt ihn ab! Übergebt ihn der Polizei. Der Staatsanwalt soll sich um den Verräter kümmern“, befahl Chris, und er verließ den Raum. Nachdem Ray der Polizei übergeben worden war, bereitete sich Team Seven auf seinen Einsatz vor. Sie würden Desmond Tiger seinen Deal vermiesen und ihn überführen. Sie würden den Kerl endlich schnappen und diesen Fall erfolgreich abschließen. „Aber wir wissen nicht, wie er aussieht“, bemerkte Buck. „Das spielt keine Rolle. Wir nehmen jeden dieser Dreckskerle fest. Dann werden wir Desmond Tiger schon dabei haben“, erklärte Chris entschlossen. Seine Männer nickten zustimmend. Dies war ihre Chance, Desmond Tiger in die Finger zu bekommen. Und diese Chance würden sie sich nicht entgehen lassen. Derselbe
Tag, Team Seven hatte sich in der Dunkelheit der Lagerhalle postiert und wartete auf Desmond Tiger. Sie würden dem Deal zuerst beiwohnen und dann, wenn er über die Bühne gegangen war, würden sie zuschlagen. Sie mußten ihn auf frischer Tat ertappen, ansonsten wäre er in einer Stunde nach der Verhaftung wieder auf freiem Fuß. Chris hielt mit seinen Männern über Funk Kontakt. Der Einsatz mußte problemlos ablaufen, ansonsten hörte er schon jetzt, was das FBI dazu sagte, nicht informiert worden zu sein. Ein paar Minuten später fuhren zwei Wagen vor. Aus einem stieg ein Asiate mittleren Alters mit zwei Begleiter aus und aus dem anderen ein hochgewachsener Mann mit einer Frau. „Chris?“ Der Anführer von Team Seven hörte die Stimme von Vin über den Funk. „Ja?“ „Die haben eine Frau dabei. Was sollen wir mit ihr machen?“ „Ebenfalls verhaften“, orderte Chris ruhig an. Wahrscheinlich war sie bloß die Geliebte von Desmond Tiger, aber als solche hatte sie entweder Informationen oder sie machte sich ebenfalls strafbar, weil sie bei seinen Geschäften anwesend war. Die Personen waren einige Meter von ihnen entfernt und die Dunkelheit ergab den Rest. Sie konnten die Personen nicht richtig ausmachen; konnten nicht sehen, wie sie aussahen, aber das spielte im Moment keine Rolle. Sie hörten auch nicht, was dort gesprochen wurde, aber der Waffendeal war ganz klar zu erkennen. Der Asiate überreichte Desmond Tiger einen Koffer, in dem sich sehr wahrscheinlich die Zahlung für die Waffen befand. Einige Kisten wurden in den Kofferraum des schwarzen Wagens geladen, und man schloß den Handel mit einem Handschlag ab. Dies war das Zeichen für Team Seven. Augenblicklich kreisten sie die Verbrecher ein und begannen mit ihrem Einsatz. Als die anwesenden Personen merkten, daß sie nicht allein waren, zogen sie ihre Waffen. In wenigen Sekunden war eine heftige Schießerei zwischen dem ATF-Team und den Leuten rund um Desmond Tiger im Gange. Der Asiate wollte mit seinen beiden Begleitern fliehen, doch ein gezielter Schuß in sein Bein hinderte ihn an der Flucht. Das eingespielte Team Seven arbeitete sich weiter vor, um die Verhaftungen durchzuführen. Sie verhinderten, daß die Anwesenden mit ihren Wagen fliehen konnten. Deshalb verteilten sie sich im Gebäude und versuchten, auf ihre Art zu entkommen. Oliver ließ seine Chefin nicht gerne allein, aber im Moment mußte er sich um sein eigenes Leben kümmern. Erin würde das so von ihm erwarten. Außerdem konnte sie ganz gut auf sich selbst aufpassen, das wußte er. Erin zog ihre Waffe und feuerte gezielte Schüsse zurück. Eine Kugel traf einen der Agenten im Arm und riß ihm die Waffe aus der Hand. Sie drehte sich um und blickte Oliver wissend an. Er wußte, was dieser Blick zu bedeuten hatte. „Es ist dieses verdammte Team“, fluchte er. Augenblicklich erstarrte Erin. „Team Seven?“ flüsterte sie. Oliver nickte leicht, und er wußte auch, was das bedeutete, wenn sie Erin zu sehen bekamen. Vin Tanner würde sie sofort erkennen. „Verdammt!“ sprach Erin kopfschüttelnd. „Oliver, wir trennen uns.“ „Aber ...“ „Tu was ich dir sage“, fuhr sie an, und sie schoß erneut ein ganzes Magazin Kugeln leer. So leicht würde sie sich nicht zu erkennen geben. Und sie würde nicht aufgeben. Wenn jemand sie verhaften wollte, dann mußte er dies mit Gewalt machen. Freiwillig würde sie sich niemals ergeben. Schmerzverzerrt glitt Buck zu Boden und hielt sich die Schußwunde am Arm. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, den Arm zu heben, doch dies gelang ihm nicht. Sofort tat es erneut höllisch weh. Nathan rannte geduckt zu ihm und ließ sich neben ihm nieder. „Verdammt“, sprach Buck. „Das kriegen wir schon wieder hin, Buck. Keine Sorge, so schlimm ist die Verletzung nicht“, beruhigte Nathan ihn und befahl ihm, die gesunde Hand auf die Verletzung zu drücken, damit er nicht noch mehr Blut verlor. „Laßt niemanden entkommen“, schrie Chris über den Platz, und er übertönte mit seiner Stimme sogar die lauten Schüsse. Oliver versuchte, durch eine Seitentür zu fliehen. Aber er mußte auf der Hut sein, um sich die Agenten, die ihn verfolgten, vom Hals zu halten. Immer wieder drehte er sich um und gab Schüsse aus seiner Waffe ab. In der Zwischenzeit hatte Erin eine Treppe erreicht und lief sie hastig hinauf. Die Treppe führte zu einem langen Gang, der an einem kleinen Hinterausgang endete. Erin kannte diese Lagerhalle in- und auswendig. Vin sah, daß die Frau, die man nur von hinten sah, fliehen wollte, und folgte ihr. Er konnte sie im dunklen Gang stoppen. „Halt, Lady! Stehenbleiben! Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden und drehen Sie sich mit erhobenen Händen zu mir um“, forderte er scharf. Erin blieb zögernd stehen und schüttelte leicht den Kopf. Sie wußte, daß er den Lauf seiner Waffe direkt auf sie richtete. Wenn sie auch nur einen Schritt machte, würde er sie mit einem gezielten Schuß außer Gefecht setzen. Tja, anscheinend muß das Phantom Desmond Tiger nun seine Maske fallen lassen, dachte sie seufzend. Das es ausgerechnet Vin war, der sie entlarvte, schmeckte ihr nicht besonders. „Umdrehen, habe ich gesagt“, schallte ihr seine energische Stimme entgegen. Erin zuckte mit den Schultern und ergab sich. Sie hatte keine andere Wahl. Langsam drehte sie sich um. „Kommen Sie ins Licht, Lady“, forderte er ahnungslos. Erin trat zwei Schritte nach vorne und blieb im schwachen, gedämpften Licht stehen. Sie hob den Kopf und blickte Vin direkt in die Augen. „Oh ... mein Gott“, flüsterte er schockiert. Vin blickte in ein ihm so bekanntes Augenpaar. Er konnte es nicht glauben, wer da vor ihm stand. Was tat sie hier? Vin konnte einfach nicht fassen, daß er die Frau vor sich sah, mit der er eine Beziehung eingegangen war; die er liebte. „Hallo Vin“, sprach Erin ruhig. Ihm stand der Schock ins Gesicht geschrieben, das sah sie. „Gillian“, flüsterte er entsetzt.
~ 10. ~ Schwach ließ Vin die Waffe sinken. „Das ... das kann nicht sein“, sprach er kopfschüttelnd. „Was machst DU hier?“ Erin zuckte leicht mit den Schultern. „Ich bin derjenige, den du suchst“, gestand sie. Vin riß seine Augen noch weiter auf und blickte sie ungläubig an. „Desmond Tiger?“ Bejahend nickte Erin. „Gott, was wird hier gespielt? Das muß ein Alptraum sein.“ „Es ... tut mir leid, Vin“, sprach Erin, und sie trat ein paar Schritte zurück. Sie wußte, Vin war niemals dazu in der Lage, auf sie zu schießen. „Halt! Bleib stehen!“ schrie Vin, daß sein Ruf durch die ganze Lagerhalle schallte. „Du weißt selbst, daß du das nicht fertig bringst“, sprach Erin, und sie setzte einen Schritt nach dem anderen. Vin blickte ihr entgeistert nach. Er wußte, sie hatte recht. Er konnte sie nicht aufhalten. In diesen Moment hörte er Schritte auf der Treppe, die sich dem Gang schnell näherten. Doch Vin blickte sich nicht um. „Vin, verdammt, was tust du da?“ brüllte Chris. Er kam neben Vin zu stehen und sah, daß sein Scharfschütze nicht reagierte. Er ließ die Frau einfach laufen. „Bleiben Sie stehen, Lady“, schrie der Anführer von Team Seven. Doch Erin gab darauf nichts. Chris richtete seine Waffe auf sie und wollte sie an ihrer Flucht hindern, aber da funkte Vin ihm dazwischen. Er riß Chris‘ Hand herum, und die abgefeuerte Kugel bohrte sich in die Decke der Halle. „Bist du wahnsinnig?“ ging Chris auf ihn los. „Was soll das, Vin? Was ist los mit dir? Du kannst eine verdächtige Person nicht einfach gehen lassen. Das ist Fluchthilfe, verdammt noch mal!“ Vin blickte noch immer auf den dunklen Gang; auf den Punkt, wo Erin verschwunden war. Er konnte es nicht glauben. Es war, als wäre gerade sein ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammen gebrochen. Chris bemerkte, wie apathisch Vin da stand. Er packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn energisch. „Vin! Sag endlich etwas. Was ist los? Warum begehst du plötzlich Fluchthilfe?“ Langsam drehte Vin seinem Chef das Gesicht zu. Chris erschrak, als er den traurigen, ausdruckslosen Ausdruck ins Vins Augen sah. Er kannte diesen Blick; nach dem Tod seiner Familie hatte er ihn oft genug im Spiegel gesehen. Was hatte Vin bloß so aus der Fassung gebracht? „Vin, was bedrückt dich? Du bist doch sonst nicht so gedankenlos.“ „Sie ... sie ist ...“, stammelte Vin, doch er brachte es einfach nicht über die Lippen. Wenn er es aussprach, war es traurige Gewißheit. Dann war ihre Liebe nur eine Lüge gewesen. Dann hatte sie ihn von Anfang an nur benutzt, um mehr über sein Team zu erfahren, und diese Tatsache konnte er nicht ertragen. „Wen meinst du mit sie? Etwa diese Frau, die du hast entkommen lassen?“ hakte Chris nach. Vin nickte langsam. „Du kennst sie?“ Wieder bekam er bloß ein Nicken als Antwort. „Vin, jetzt sag mir endlich, was los ist! Das ist ein Befehl“, forderte Chris mit lauter, unnachgiebiger Stimme. Vin blickte Chris direkt in die Augen und schluckte schwer. „Diese Frau ... ist Gillian. Sie ist Desmond Tiger“, flüsterte Vin und ging. Er mußte so schnell wie möglich diese Lagerhalle verlassen. Schockiert starrte Chris ihm nach. Die Worte drangen zu ihm durch, und er wußte um ihre Bedeutung. Gillian, das war die Frau, mit der Vin zusammen war. Sie war Desmond Tiger? Desmond Tiger war eine Frau? Diese Fakten mußte auch er erst einmal verdauen. Nun wurde ihm auch klar, warum Vin so neben sich stand und so fassungslos reagierte. Vin hatte gerade erfahren, daß seine Liebe nicht das war, was sie vorgegeben hatte zu sein. Der Asiate, seine beiden Begleiter und auch Oliver waren verhaftet worden, und die Kisten waren beschlagnahmt worden. Die Waffen hatten einiges an Wert und waren nicht registriert. Doch in bezug auf Desmond Tiger konnte man nicht sagen, einen Erfolg verbucht zu haben. Sie wußten nun, daß der geheimnisvolle Desmond Tiger eine Frau war, aber die Stimmung im Büro war trotzdem äußerst bedrückt. Und das lag daran, daß Desmond Tiger die Frau war, die Vin sein Herz gestohlen hatte. Vin stand am Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Seit gut einer Stunde waren sie wieder im Büro, und er hatte noch kein Wort gesagt. Er blickte bloß stumm aus dem Fenster und gab ab und zu ein leises Seufzen von sich. „So habe ich ihn noch nie erlebt“, sprach Josiah besorgt. „Das war ein Schock für ihn. Ich meine, diese Frau ... er liebt sie, und jetzt erfährt er, daß sie Desmond Tiger ist“, erwiderte Chris besorgt. „Eine Frau! Desmond Tiger ist eine Frau, ich fasse es nicht“, rief Buck ohne Vorwarnung aus. „Buck, könntest du etwas vorsichtiger mit dieser Information umgehen?“ fuhr Chris ihn scharf an. „Was ist?“ Chris blickte vielsagend zu Vin, dessen Schultern bei Bucks Aussage noch mehr Richtung Erde sanken. „Oh, tut mir leid. Das war wirklich unsensibel“, murmelte Buck schuldvoll, dessen Wunde versorgt worden war. Er hatte sich geweigert, länger als nötig im Krankenhaus zu bleiben. Das Gerede seiner Kollegen trat in weite Ferne. Vin hörte nicht richtig zu. Noch immer war er wie vor den Kopf gestoßen. Es war, als würde er neben sich stehen und beobachten, wie er auf diese Neuigkeit reagierte. Vin fühlte sich im Moment unendlich einsam; als hätte die ganze Welt ihn allein gelassen. Die Wahrheit tat furchtbar weh. Von Anfang an hatte sie ihn benutzt. „Vin?“ Chris‘ fürsorgliche Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte wortlos auf. „Es tut mir leid, aber ... wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen Desmond Tiger aus dem Verkehr ziehen und ...“ Ruckartig setzte Vin sich in Bewegung, griff nach seiner Jacke und seinen Schlüsseln und war auf dem Weg, das Büro zu verlassen. „Wo will er hin?“ fragte J.D. besorgt. Chris wollte Vin in diesen Zustand nicht allein lassen und lief ihm nach. Er holte ihn auf der Treppe ein. „Vin, warte!“ rief er, doch der Scharfschütze eilte weiter Richtung Ausgang. „Vin!“ An der Tür hatte er ihn eingeholt. Vin wollte gerade hinaus stürmen, als Chris nach der Tür griff und sie so heftig zuschlug, daß man glaubte, das Glas würde aus der Tür springen. „Ich weiß, daß es schwer für dich ist, aber wir sind Profis. Und du kennst sie. Wir brauchen deine Hilfe.“ „Verstehst du nicht, daß ich dazu nicht in der Lage bin, Chris?“ brüllte Vin auf einmal los. „Ich dachte, unsere Beziehung ist etwas Besonderes. Tief in mir spürte ich, daß sie die Frau meines Lebens werden könnte. Und jetzt? Jetzt sehe ich mich plötzlich der Tatsache gegenüber, daß sie Desmond Tiger ist.“ „Ich verstehe dich doch“, sprach Chris sanft, aber bestimmend. „Sie hat mich benutzt. Sie wußte schon bei unserer ersten Begegnung, wer ich bin. Sie hat mich regelrecht verführt und mir den Verstand vernebelt. Sie hat mich benutzt, Chris“, flüsterte Vin nieder geschlagen. Chris seufzte leise und legte seinem besten Freund einen Arm um die Schulter. Plötzlich schien Vin seine ganze Kraft zu verlieren und sackte direkt vor der Glastür des Hauptgebäudes zu Boden. „Vin ...“, begann Chris besorgt, doch der Scharfschütze ließ ihn nicht aussprechen. Das, was ihm auf der Seele lastete, schien ihn innerlich zu verbrennen. Es belastete ihn auf eine Art und Weise, die er niemals für möglich gehalten hatte. „Ich liebe sie“, sprach er offen. „Verdammt, ich bin verrückt nach ihr. Ich kann nicht ohne sie leben. Niemals hätte ich gedacht, daß sie mich belügt, mich benutzt. War ich wirklich so blind, daß ich nicht bemerkt habe, was für ein Spiel sie mit mir abzieht?“ Chris ließ sich neben seinen besten Freund nieder und lehnte sich gegen die geschlossene Glastür. „Manchmal ... da macht Liebe blind“, sprach er ruhig. „Ich weiß, was es bedeutet, eine Frau so sehr zu lieben, daß es weh tut. Mir ging es mit Sarah genauso.“ „Und?“ „Du denkst nicht darüber nach, daß sie falsch spielen könnte. Vin, es ist nicht deine Schuld. Woher hättest du das auch wissen sollen? Sie gab dir doch keinen Grund, ihr zu mißtrauen, oder?“ „Nein, es gab keinen Grund zu denken, sie spiele mir nur etwas vor“, murmelte der Jüngere. „Denkst du, du bist Profi genug, um deine persönlichen Gefühle außen vor zu lassen?“ fragte Chris vorsichtig nach. Vin sah ihn von der Seite aus an und schüttelte dann verneinend den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Es ist besser, du arbeitest ohne mich an diesem Fall weiter. Ich bin euch keine Hilfe. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich ihr noch einmal gegenüberstehe“, sprach Vin, und er stand abrupt auf. „Es ist besser, du ziehst mich von diesem Fall ab.“ „Vin, ich brauche dich. Du kennst diese Frau und ...“ „Mein Gott, ich bin ihr so verdammt nahe gekommen und weiß nicht einmal, wo sie wohnt“, stieß Vin aus. „Ich weiß so gut wie gar nichts über sie und doch ...“ Er hielt mitten im Satz inne. „Und doch was?“ „Und doch würde ich mich für sie opfern, wenn ihr Leben in Gefahr geraten würde. Ich kann es nicht ertragen.“ „Was?“ „Die Wahrheit über sie. Ich kann sie nicht ertragen“, murmelte Vin, dann schob er Chris – der ebenfalls aufgestanden war – energisch zur Seite und riß die Tür auf. Hastig sprintete er die Stufen zu seinem Wagen hinunter und fuhr weg. Überaus besorgt blickte Chris dem Wagen nach, der davonraste. Er schüttelte leicht den Kopf. Das, was Vin heute erfahren hatte, schien mehr zu sein, als er verkraften konnte. Er schien dieser Situation, mit der niemand gerechnet hatte, nicht gewachsen zu sein. Sie wußten jetzt zwar, wer Desmond Tiger war, aber das löste nicht ihr Problem. Im Gegenteil: Ihre Probleme schienen durch die Wahrheit nur noch größer geworden zu sein. Vin konnte keine klaren Gedanken fassen. Er wußte nicht einmal, wohin er wollte. Für ihn stand nur fest, daß er weg wollte. Er mußte aus diesem Büro verschwinden; hatte das Gefühl, dort keine Luft mehr zu kriegen. Vin fuhr einfach durch die Gegend. Die Wahrheit über Gillians Identität tat furchtbar weh. Es war, als wäre sein Herz in tausend Stücke zerschlagen worden. Und die Scherben bohrten sich tief in seine Seele. In diesen Moment klingelte sein Handy. Zuerst wollte Vin nicht rangehen, aber das Klingeln verstummte nicht. Seufzend fuhr er an den Straßenrand und klappte das Handy auf. „Ja?“ „Man hat Oliver verhaftet“, verkündete ihm eine weibliche Stimme. Vins Kehle wurde auf einmal unheimlich trocken. Er brachte kein Wort mehr über die Lippen; kannte Vin diese Stimme doch zu gut. „Oliver ist meine rechte Hand, falls es dich interessiert, und er wurde mit einer Schußverletzung in ein Gefängniskrankenhaus gebracht.“ „Was willst du?“ fragte Vin kurzangebunden. „Ich schätze, du willst Antworten, oder?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie wirklich hören will.“ „Vin, hör mich bitte an! Ich kann dir das erklären. Wenn du interessiert bist, dann bin ich bereit, mich mit dir zu treffen. Aber ich will, daß du allein kommst“, forderte Erin mit fester Stimme. Vin überlegte einen Moment. Er wußte, dies war keine gute Idee – immerhin war er befangen. Aber er konnte nicht anders. Er mußte sie einfach sehen. „Wann und wo?“ „Ich habe eine Hütte in den Bergen – ungefähr einen Kilometer von der Straße entfernt. Du kannst sie nicht verfehlen. Kannst du in drei Stunden dort sein?“ „Ja, sicher. Ich hoffe, das ist keine Falle.“ „Vin, wenn ich dich töten wollte, hätte ich es getan, als du mich entlarvt hast“, sprach Erin scharf, und sie legte auf. Schwach lehnte Vin sich zurück. Dies war die schlechteste Idee, der er jemals gefolgt war. Wenn Chris das erfuhr, würde er ihm die Hölle heiß machen. Aber er mußte sie sehen – ein einziges Mal noch, bevor sie endgültig zu seinem Feind wurde. Er mußte allein mit ihr sprechen; mußte sie fragen, warum das alles. Vin wollte Antworten, und nur sie konnte ihm diese geben. Auch wenn er sich die Finger verbrennen würde, würde er allein zu ihrem Treffen erscheinen – ohne sein Team zu informieren. Diese Sache war einfach zu persönlich.
~ 11. ~ Vin hatte seinen Wagen am Fuße des Berges abgestellt und war den Kilometer zu Fuß gewandert. Nun stand er vor der Hütte und schluckte schwer. Sollte er dies wirklich wagen? Konnte er ihr wirklich gegenübertreten und den Schmerz ertragen? Ein leiser Seufzer entrang sich seiner Kehle. Vin steuerte auf die Hütte zu und stieg die zwei Stufen zur Veranda hoch. Einen kurzen Moment zögerte er noch, dann stieß er die Tür auf. Als die Tür ins Schloß fiel, drehte sich Erin um. Schweigend standen sie sich gegenüber. „Ich dachte nicht, daß du wirklich kommst“, sprach Erin schließlich, die nun einen schwarzen, enganliegenden Hosenanzug trug. Bei dem mißglückten Deal hatte sie noch ein schlichtes Kostüm getragen. „Ist das ein Trick?“ fragte Vin so abweisend wie möglich. Erin schüttelte leicht den Kopf. „Meine Waffe liegt dort drüben auf dem Tisch“, erklärte sie ihm und deutete auf einen Holztisch. Vin blickte dorthin und sah, daß sie die Wahrheit sprach. „Warum?“ fragte er auf einmal. Diese Frage lag ihm am Herzen, und er mußte die Antwort wissen. „Warum was?“ „Das alles ... warum hast du das getan?“ „Du kennst meine wahre Identität“, meinte Erin mit einem leichten Schulterzucken. „Nein, das tue ich nicht“, widersprach Vin. Erin seufzte leise. „Ja, ich bin Desmond Tiger, das Phantom, hinter dem die Polizei schon so lange her ist“, gestand sie offen. Vin konnte sie nur wortlos anstarrten. Er brachte kein Wort über die Lippen. Was hätte er auch sagen sollen? Es gab keine Worte, die beschreiben konnten, wie er sich im Moment fühlte. Nichts konnte beschreiben, was zur Zeit in ihm vorging. „Gillian ...“, begann er hilflos. „Mein wirklicher Name ist nicht Gillian. Gillian ist bloß eine weitere, falsche Identität, um mich zu schützen. Doch ich bin aufgeflogen. Nach so vielen Jahren hat die Polizei nun erfahren, wer ich wirklich bin.“ „Wie ist dein wirklicher Name?“ „Desmond Tiger.“ „Nein, ich meine ... den Namen hinter Desmond Tiger“, sprach Vin unvermittelt. „Den kann ich dir nicht sagen.“ „Verdammt noch mal!“ fuhr Vin plötzlich auf. „Du hast mich hintergangen, mich belogen und benutzt. Du bist mir diese Antwort schuldig. Dein Spiel ist sowieso vorbei.“ Erin musterte ihn einen Moment. Sie sah seinen Schmerz, und es traf sie tief. Diese Wendung ihres Spiels mit Vin Tanner hatte sie nicht beabsichtigt. Sie hatte nicht vorgehabt, sich in ihn zu verlieben. „Erin“, sprach sie schließlich. „Mein Name ist Erin Rosmond.“ „Rosmond?“ Augenblicklich ging Vin ein Licht auf. „Ja, Justin Rosmond war mein Vater“, bestätigte sie ihm. „Deshalb hast du so seltsam reagiert, als ich dir sagte, er hätte den Tod verdient. Und deshalb hast du in jener Nacht geweint.“ Sie nickte bejahend. „In der Nacht, als du mich weinen sahst, wurde mein Vater hingerichtet. Ich habe ihn sehr geliebt“, flüsterte sie. „Aber ich dachte ...“ „Was? Seine Tochter wäre tot?“ Vin nickte leicht. Erin seufzte und setzte sich auf das Bett. „Vin, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen. Ich bin dir Antworten schuldig, ja. Ich wußte als Kind nicht, was mein Vater tat. Erst als sie ihn verhaftet haben, wurde mir klar, was für eine Größe er in der Unterwelt war. Ich wuchs nach der Verurteilung meines Vater bei Vincent Cook auf, einem Geschäftspartner meines Vaters. Auch Vincent war eine Größe in der Welt, in der ich lebe“, erzählte sie mit ruhiger Stimme. „Mein Vater hatte viele Feinde, und er sah mich in Gefahr. Also täuschte Vincent einen Autounfall vor, bei dem ich starb. Mein Vater wollte mich in Sicherheit wissen.“ „Aber du hattest doch die Chance, dein Leben anders zu gestalten.“ „Ich hatte nie eine Chance“, fuhr Erin wütend auf. „Ich wuchs inmitten einer der größten Verbrechergangs von ganz Amerika auf. Ich hatte nie eine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen. So wurde aus mir Desmond Tiger – eine kalte, skrupellose Frau, die in die Fußstapfen ihres Vaters trat“, sprach sie mit erhobenen Kinn. „Als ich hörte, daß das FBI den Fall an Team Seven abgegeben hat, wußte ich schon bald alles über euch.“ „Also war unsere Begegnung kein Zufall?“ Leicht schüttelte Erin den Kopf. „Doch, sie war Zufall. An diesem Tag kam ich gerade aus dem Gefängnis. Es war mein letzter Besuch bei meinen Vater vor seiner Hinrichtung. Er wollte nicht, daß ich wiederkam oder bei der Hinrichtung anwesend bin. An diesen Tag sah ich meinen Vater das letzte Mal – lebend“, sprach sie. Ihre Stimme klang gedämpft. Vin sah, daß der Tod ihres Vaters ihr sehr nahe ging. „Und dann stieß ich plötzlich mit dir zusammen. Vin, ich hatte vor, dich zu benutzen und das habe ich auch getan. Aber dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet habe.“ „Was?“ „Du warst da, als ich um meinen Vater trauerte. Du hast mich in deine Arme genommen, ohne zu wissen, weshalb ich weine. Ich hätte diese schwere Stunde ohne dich nicht überstanden. Ich hatte nicht vor, mich in dich zu verlieben“, gestand sie. Überrascht hob Vin den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. „Was?“ „Du hast mich schon verstanden. Vin, in meinen Leben gab es viele Männer, doch es gab nie eine richtige Beziehung. Ich wußte nicht, was für ein Mensch du bist, als ich beschloß, dich für meine Pläne zu benutzen. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich richtig verliebt. Ich weiß, daß wir auf zwei verschiedenen Seiten stehen, aber ...“ „Wir haben keine Zukunft“, murmelte er. „Ja, Desmond Tiger wird entweder sterben oder ins Gefängnis gehen. Es wird kein Happy End geben. Es tut mir leid.“ „Was? Das du mich angelogen hast? Das du mich benutzt hast?“ Sie nickte leicht. „Ich muß nun einmal tun, was nötig ist, um zu überleben und der Polizei zu entkommen.“ „War das alles für dich nur ein Spiel?“ „Denkst du, das war es?“ „Ja, das denke ich“, warf er ihr vor. „Du hast keine Ahnung, welches Leben ich führe.“ „Doch, du führst das Leben von Desmond Tiger, einem der meistgesuchten Verbrecher Amerikas. Bist du stolz darauf?“ hakte er nach. „Ja. Ich werde mich nicht ändern. Es gibt keinen Grund dazu, verstehst du? Ich muß das tun.“ „Wieso? Warum stellst du dich nicht einfach?“ „Das geht nicht.“ „Sag mir, wieso nicht“, forderte er. „Ich habe es meinem Vater versprochen“, murmelte Erin, und sie ging zum Fenster. Ihr Blick glitt zum Berg, der sich aus der Ferne hoch über Denver erhob. „Dein Vater war ein Krimineller. Er hat unter anderem Polizisten getötet, die bloß ihre Arbeit gemacht haben. Er hat unzählige Familien zerstört.“ „ER war meine Familie. Erinnere dich an die Nacht seiner Hinrichtung. Ich liebe ihn. Ich war immer stolz darauf, seine Tochter zu sein. Wenn er mich gebeten hätte, ihn aus dem Knast zu holen ... Verdammt, ich hätte mein Leben gegeben, um das zu tun“, rief sie lautstark. „Du kannst das nicht verstehen. Der Waffenhandel ... das ist mein Leben. Für mich gibt es keine Umkehr.“ „Aber man kann dich noch retten.“ „Nein, ich gehe nicht ins Gefängnis, Vin“, sprach sie entschlossen. „Mein Vater war bis zum Schluß so stolz auf mich und darauf, daß ich nicht zu fassen bin.“ Auf einmal brach Erin ab und blickte wortlos aus dem Fenster. Vin sah die Tränen, die sich langsam von ihren Augen lösten. Ihre coole, unnahbare Fassade bröckelte. Desmond Tiger schien zu verschwinden, und die wahre Frau hinter der Maske trat zum Vorschein. „Zum Teufel“, fluchte er und kam zu ihr. Sanft legte er ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Für die Welt war er der berüchtigte Polizistenmörder, aber für mich ... für mich war er mein Vater“, flüsterte Erin mit betroffener Miene. Vin hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich weiß“, sprach er beruhigend. Auch wenn ihr Leben als Desmond Tiger zwischen ihnen stand, er konnte sie einfach nicht ihrem Schmerz überlassen. „Ich liebe dich“, sprach er. „Ich wußte nicht, daß es möglich ist, einen Menschen so sehr zu lieben. Du hast mir das gezeigt, Erin. Auch wenn ich weiß, daß diese Liebe mich in Schwierigkeiten bringt.“ Erin hob den Kopf und blickte zu ihm auf. „Ich kann dich aus zweierlei Gründen nicht gehen lassen.“ „Und die wären?“ hakte sie nach. „Beruflich nicht, weil du dich strafbar gemacht hast, und privat, weil ich ohne dich nicht mehr leben kann“, gestand er. „Aber für eine Seite mußt du dich entscheiden.“ „Was hast du nun vor – unabhängig von meiner Entscheidung?“ „Ich werde die USA verlassen. Ich werde untertauchen. Es liegt an dir, ob du mitkommst oder nicht.“ „Was geschieht, wenn ich es nicht tue?“ „Dann bist ab diesem Zeitpunkt genauso mein Feind wie dein ganzes Team. Dann ist es vorbei. Ich muß an mein Überleben denken.“ „Gib auf! Erin, stell dich. Ich werde dich zur Polizei begleiten und ...“ „Nein“, unterbrach sie ihn entschlossen. Vin schloß gequält die Augen. „Erin, ich bitte dich! Wenn du dich freiwillig stellst, bleibt dir die Todesstrafe erspart.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Es hat keinen Sinn. Du wirst mich nicht umstimmen können, Vin. Ich werde Amerika verlassen.“ „Wann?“ „Schon bald. Deshalb muß ich deine Entscheidung jetzt wissen“, forderte sie mit energischer Stimme. Vin blickte ihr in die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Er konnte das nicht tun. So sehr er diese Frau liebte ... er konnte sein Team nicht im Stich lassen. Wenn er mit ihr verschwinden würde, käme das einem Verrat an Chris und den anderen gleich. Das konnte er nicht tun. Er hatte seinen Freunden viel zu verdanken. Er konnte sich nicht gegen das stellen, woran er glaubte; warum er Agent geworden war. „Ich kann nicht“, flüsterte er mit einen leichten Schulterzucken. „Ich verstehe.“ „Erin, verstehe mich nicht falsch, aber ...“ „Du bist Agent. Eine andere Antwort hätte mich wirklich überrascht. Dann sind wir ab morgen Feinde.“ „Ab morgen?“ erkundigte er sich verwirrt. Was hatte das zu bedeuten? Mit einem leidenschaftlichen Funkeln blickte sie ihn an. „Wir haben noch eine Nacht, und die sollten wir nutzen. Wenn morgen die Sonne aufgeht, ist es vorbei. Dann stehen wir auf zwei verschiedenen Seiten“, sprach sie. Vin nickte leicht und verschloß ihre Lippen zu einem zärtlichen Kuss. Langsam sanken sie auf das Bett nieder. Sie hatte recht. Ihnen blieb nur diese Nacht. Ab den ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens würde es vorbei sein, und jeder würde alles in seiner Machtstehende tun, um seiner Pflicht nachzukommen. Ab morgen waren sie Jäger und Gejagte. Es gab kein zurück mehr. Es war ihre letzte Nacht als Verbündete. Schon ab dem Morgengrauen würden sie Feinde sein ...
~ 12. ~ Eine Stunde vor Sonnenaufgang zog Erin sich leise an. Sie schloß den Reißverschluß ihres Hosenanzuges und schlüpfte in ihre Stiefel. Erin blickte auf Vin herab, der tief und fest schlief. Seufzend beugte sie sich über ihn; prägte sich jedes Detail seines Gesichtes ein. Hauchzart strich sie ihm über das Haar und ließ ihre Finger über seine Wange gleiten. „Leb wohl, Vin Tanner“, flüsterte sie. Ein letztes Mal küßte sie ihn zärtlich. Dann erhob sie sich, nahm ihre Waffe und verließ die Hütte. Als die Tür zuschlug, weckte das Geräusch Vin auf. Er wußte augenblicklich, daß er alleine war. Vin stützte sich auf die Ellbogen und blickte sich in der leeren Hütte um. Sie war gegangen und die Wahrscheinlichkeit, daß er sie je wiedersah, war gleich null. Ein schwerer Seufzer entkam sich seiner Kehle. Das Einzige, das Erin hinterlassen hatte, war ihr unwiderstehlicher Duft. „Paß auf dich auf“, flüsterte Vin, und er schlug die Decke zurück. Es wurde Zeit, zu gehen und im Büro aufzutauchen. Er mußte sich seinen Kollegen stellen. Zwei Stunden später „Wo warst du, Vin?“ stellte Chris Larabee sofort seine Frage als der Agent im Büro erschien. „Ich bin bei dir vorbei gefahren, aber du warst nicht da. Wo bist du gewesen?“ „Was ich in meiner Freizeit tue, geht dich nichts an“, wies Vin ihn ab. „Vin, ich mache mir Sorgen. Du hast dich seit gestern nicht mehr gemeldet. Sag mir bitte, wo du dich aufgehalten hast.“ Vin drehte sich zu seinem Chef um und blickte ihn wortlos an. In seinen Augen konnte Chris die Wahrheit lesen. „Oh nein“, flüsterte er entsetzt. „Sag mir, daß das nicht wahr ist“, bat er inständig. „Was willst du von mir hören?“ „Die Wahrheit! Warst du bei ihr?“ forderte Chris zu wissen. Vin nickte leicht. „Ja, ich habe mich mit ihr getroffen. Sie hat mich angerufen, wollte mich sehen und mit mir reden.“ „Bist du verrückt? Du kannst dich nicht mit jemandem treffen, der auf den Fahndungslisten Amerikas steht“, warf Chris ihm vor. Schweigend folgte das Team der Diskussion zwischen Chef und Scharfschütze. „Ich konnte nicht anders, verstehst du das nicht? Ich mußte wissen warum. Ich mußte ... ich mußte ihr in die Augen sehen und wissen, ob alles – was zwischen uns war – eine Lüge war.“ „Und? Hat sie dir etwas erzählt?“ „Ja“, murmelte Vin. „Dann sag es mir. Du kannst dich nicht auf ihre Seite stellen. Du bist ein Teil dieses Teams.“ „Wenn ich mich auf ihre Seite stellen würde, dann würde ich mit ihr gehen.“ „Was meinst du damit?“ mischte sich nun Buck ein. „Sie will die USA verlassen. Sie verschwindet“, teilte Vin seinem Team mit. „Und du läßt sie gehen?“ fragte Chris ungläubig. „Vin, wenn du nicht schnellstens zur Besinnung kommst, dann muß ich dich vom Dienst suspendieren. Ist dir eigentlich klar, in welche Schwierigkeiten du gerade hinein stolperst?“ Eindringlich blickte Chris ihn an. Vin nickte leicht. Er wußte es. Ihm war klar, daß er sich auf seinen Job konzentrieren mußte, aber das war nicht so leicht, wenn die Frau, die man liebte, auf einmal das Zielobjekt war. „Ihr Name ist Erin Rosmond“, sprach Vin mit versteinerter Miene. „Was?“ „Desmond Tigers wahrer Name ist Erin Rosmond. Erin ist die Tochter von Justin Rosmond, der vor wenigen Tagen hingerichtet wurde“, erzählte Vin. „Ich dachte, die Tochter von Justin ...“ „Sie haben Erins Tod vorgetäuscht, um sie Justins Feinden zu schützen“, unterbrach Vin seinen Chef. Schwach ließ sich Vin auf seinen Stuhl fallen. Gequält blickte er Chris an. „Ich liebe sie. Und ich weiß, sie liebt mich auch. Ich mußte sie sehen, um das zu klären. Wir haben geredet. Sie hat mir alles erzählt – was ihr Leben betrifft und was sie mir anvertrauen wollte. Wir wissen, daß es keine Zukunft hat. Und wir wissen auch, daß wir ab heute auf zwei verschiedenen Seiten stehen. Wir sind Feinde, und ich werde sie aus dem Verkehr ziehen, auch wenn ich lange brauchen werde, um das zu verkraften.“ „Vin, was ...“ „Wenn du wissen willst, ob ich die Nacht mit ihr verbracht habe ... ja, das habe ich“, sprach Vin. „Ich mußte sie ein letztes Mal in meinen Armen halten. Es war unsere letzte Nacht. Denn jetzt wird jeder von uns das tun, was nötig ist, um seine Pflicht zu erledigen. Es fällt mir nicht leicht, aber Erin hat recht. Wir haben keine Zukunft, wir werden nie richtig zueinander finden.“ „Du denkst also, daß du das schaffst?“ Vin nickte leicht. „Ja, ich werde das hinkriegen. Zwischen Erin und mir ist alles geklärt. Wir gehen jetzt getrennte Wege. Und auch, wenn es weh tut, ich werde damit klarkommen. Ich bin Agent, und ich muß meinen Job machen“, erklärte Vin mit der Entschlossenheit, die er im Moment aufbringen konnte. „Okay, dann machen wir uns an die Arbeit“, sprach Chris, und er teilte seine Leute ein. Vin saß an seinem Tisch und starrte Löcher in die Luft. Seine Gedanken waren bei Erin. Schon bald würde sie für immer verschwunden sein. Einerseits wünschte er sich, daß sie entkommen konnte, aber andererseits mußte er seinen Job machen und sie verhaften. Es würde nicht leicht werden, das wußte er. Aber er würde es schaffen. Er mußte tun, was zu tun war, um sie zu verhaften. Und Erin mußte tun, was nötig war, um zu entkommen. Sie standen sich nun als Gegner gegenüber. Als Gegner, die sich tief in ihren Herzen liebten. In der Zwischenzeit war Erin bei ihrem Anwesen angekommen. Jordan erwartete sie schon ungeduldig. „Der Deal ging schief, Oliver ist verhaftet worden“, sprach er. „Ich weiß. Hör zu, Jordan: Wir müssen uns beeilen. Es wird nicht mehr lange dauern, und hier wird es bald von Cops wimmeln. Vernichte alle Geschäftsunterlagen und alles, was ihnen einen Hinweis auf mich gibt. Wir verschwinden heute Abend. Bis dahin muß hier alles zerstört worden sein. Hast du verstanden?“ sprach Erin auf den Weg in ihr Büro. Jordan nickte. „Ich kümmere mich sofort darum und informiere die Leute.“ Er machte am Absatz kehrt und erledigte das. Erin stieß die Tür zu ihrem Büro auf und griff nach dem Telefon. „Jack, hier ist Erin. Sorge dafür, daß mein Privatjet völlig aufgetankt ist. Heute abend verschwinde ich.“ „Es wird alles vorbereitet sein“, sprach der Pilot, der Erin seit Jahren zu ihren Terminen quer durch die Welt flog. Für einen Moment genoß Erin die Ruhe und sank in ihren Schreibtischsessel. „Es tut mir leid, Vin“, flüsterte sie. Sie wußte, dieser Abschied fiel ihnen beiden schwer, aber ihre Beziehung würde nie funktionieren. Ihre beider Jobs standen dazwischen. Sie war Desmond Tiger, und er war einer der Agenten, der hinter ihr her war. Diese Liebe war zum Scheitern verurteilt. Erin seufzte leise und erhob sich. Es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Sie konnte es nicht ändern. Auch wenn ihr Herz nur diesen einen Mann kannte, mußte sie jetzt daran denken, sich ihre Freiheit zu bewahren. Fieberhaft arbeitete Team Seven daran, Erin ausfindig zu machen. Während das Team sich durch ganz Denver telefonierte, fuhr Chris mit Vin zu der Hütte, wo Vin und Erin ihre letzte Nacht verbracht hatten. Chris wollte sich die Hütte ansehen. Vielleicht gab es dort einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Chris‘ Blick glitt sofort zu dem zerwühlten Bett. Es war offensichtlich, wer sich darin die ganze Nacht herumgewälzt hatte. Vin lehnte gegen den Türrahmen, während Chris sich in der Hütte umsah. „Es tut mir leid“, sprach Chris aufrichtig. „Was?“ „Daß deine Beziehung so schief gelaufen ist. Ich habe es dir gewünscht, glücklich zu werden, aber ... wir müssen sie kriegen. Das ist unsere Aufgabe.“ „Das weiß ich, und Erin weiß es auch. Ich weiß, daß ich nichts daran ändern kann. Ich kann nur meinen Job erledigen. Komischerweise hat Erin dafür Verständnis“, sprach Vin mit einen bitteren Lächeln. Chris drehte sich kurz zu ihm um. Er konnte Vin ansehen, wie schwer ihm diese Entscheidung fiel. Chris zog sich sterile Handschuhe an und durchwühlte die wenigen Sachen, die sich in der Hütte befanden. Mit grimmiger Miene öffnete er Schränke und durchstöberte sie. „Was hoffst du zu finden?“ „Außer deinen Fingerabdrücken?“ warf Chris ein. „Ich hoffe, einen Hinweis zu finden. Was denkst du, wann wird sie verschwinden?“ „Keine Ahnung“, murmelte Vin. „Du kennst sie, Vin, also sag mir, was du denkst.“ „Ich schätze heute abend. Aber sie wird kaum vom Flughafen aus abreisen. Viel zu gefährlich für sie“, sprach Vin. „Vielleicht solltest du doch Urlaub nehmen. Wenn sie entkommt, könnte das FBI auf die Idee kommen, daß du ihr bei der Flucht geholfen hast.“ „Ich weiß, auf welcher Seite ich stehe, und was das FBI darüber denkt, ist mir völlig egal“, warf Vin schärfer als beabsichtigt ein. „Weißt du, es ...“ Chris brach ab, als er einen dünnen Folder aus einer Schublade zog. „Hast du etwas gefunden?“ fragte Vin mit zitternder Stimme. Bejahend nickte Chris. Er schlug den Folder auf und fand darin einige Rechnungen. „Das sind Rechnungen über Reparaturarbeiten an einem Haus. Dem Datum nach zu urteilen, ein gutes Jahr her.“ „Und?“ Chris blätterte die Rechnungen durch. Sie trugen alle die gleiche Adresse. Er blickte Vin mit einen wissenden Blick an. „Wir haben sie“, sprach er. „Wir haben ihre Adresse.“ Dies nahm Vin mit einen bloßen Nicken zur Kenntnis. „Gehen wir!“ Auf dem Weg zum Wagen zurück, zog Chris sein Handy hervor und wählte die Nummer des Büros. „Nathan Jackson“, meldete sich gleich darauf einer seiner Leute. „Nathan, macht euch bereit. Ich habe die Adresse von Tiger“, sprach Chris. „In zwei Stunden statten wir der Dame einen Besuch ab.“ „Ich hab verstanden, Boß“, meinte Nathan, legte auf und teilte dem Team die Nachricht mit. Vin schluckte schwer. Schweigend folgte er Chris zu dessen Wagen zurück. Nun würde es ernst werden. Tief in sich spürte er, daß Erin noch in der Stadt war. Sie hatte Denver noch nicht verlassen. Und wenn sie bei ihrem Anwesen auftauchten, würde es zu einen heftigen Schußwechsel kommen, das sah er voraus. Erin würde noch dort sein. Sie würde alles in ihrer Machtstehende tun, um ihre Verhaftung zu verhindern. Und er würde alles tun, um seinen Job zu erledigen. Für diesen Einsatz mußte Vin Tanner seinen schwersten Weg gehen.
~ 13. ~ „Ist alles erledigt?“ erkundigte sich Erin, als Jordan ihr Büro betrat. „Ja, die Unterlagen sind vernichtet, der Jet ist voll getankt und deine Koffer sind schon im Wagen. Wir können los.“ „Gut, geh schon einmal vor. Ich komme gleich“, murmelte Erin. Jordan nickte leicht und zog die Tür hinter sich zu. Erin blickte sich ein letztes Mal in ihrem Büro um. Ein leiser, wehmütiger Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Sie hatte sich in Denver sehr wohl gefühlt. Diese Villa war ein Zuhause für sie geworden. Aber sie würde sich auch woanders eine Existenz aufbauen können. Ihr Leben in Denver war vorbei. Sie mußte untertauchen, hatte keine andere Wahl. Erin griff nach dem Fotorahmen, in dem sich ein Foto ihres Vaters befand. „Tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe, aber ich muß gehen. Ich hoffe, du hast von oben ein Auge auf mich, Dad“, flüsterte sie und stellte den Rahmen auf seinen Platz zurück. Erin öffnete eine Lade ihres Schreibtisches, holte ihre Waffe heraus, lud sie durch und trat vom Schreibtisch weg. Mit festen Schritten ging sie zur Tür. Sie hatte den Griff schon in der Hand, als sie sich umblickte. „Tja, das war es dann wohl“, murmelte sie und öffnete die Tür. Als sie über den Korridor schritt, blieb sie stehen und horchte angestrengt. Von draußen waren hektische Geräusche zu hören. Geräusche, die ihre Instinkte sofort alarmierten. Etwas stimmte nicht. Sie setzte sich nun schneller in Bewegung. An der Treppe begegnete sie Jordan, und dessen Gesichtsausdruck verhieß nichts gutes. „Die Cops sind da“, sprach er bloß. In der nächsten Sekunde erschütterte eine Explosion den Boden. „Sie jagen gerade unsere Wagen in die Luft“, setzte er genervt hinzu. „Okay, dann schießen wir uns den Weg frei. Tut, was ihr tun müßt, um zu überleben“, befahl Erin. Instinktiv wußte sie, daß Vin da draußen war. Doch sie schüttelte diese Gedanken sofort ab; ließ sie nicht an sich rankommen. Jetzt durfte sie keine Schwäche empfinden. Das wäre ihr Untergang. Das Haus war von ATF und FBI eingekreist. Buck Wilmington kümmerte sich um die kleinen, gezielten Explosionen. Allen Beteiligten flogen die Kugeln um die Ohren. „Ich will Desmond Tiger lebend“, teilte Chris seinen Leuten über das Funkgerät mit. Erins Leute waren nicht bereit, einfach aufzugeben. Sie würden kämpfen – bis zum Allerletzten. Und sie ließen sich auch nicht zwei Mal bitten, sich auf diesen Kampf einzulassen. Die Wagen standen teilweise in Brand, und die Flammen züngelten hoch in die dunkle Nacht; schienen den Himmel zu berühren. „Vin, denkst du, du schaffst das?“ hakte Chris nach. Vin lud sein automatisches Gewehr durch und nickte. „Ja, ich kriege das schon hin. Keine Sorge, du kannst mir vertrauen“, sprach er überzeugend. Chris nickte leicht, duckte sich unter den Kugelhagel und suchte sich eine gute und sichere Position hinter einem FBI-Wagen. Jordan und Erin waren hinter einem Wagen, den Buck nicht erreichen konnte, da er zu weit weg stand, in Deckung gegangen. Ohne zu zögern, feuerte Erin ihre Kugeln ab, mit der Absicht, einen von Team Seven außer Gefecht zu setzen. Der heiße Kampf entbrannte immer mehr. Während die FBI-Agenten zu Boden gingen und keine Chance hatten, an Erin ranzukommen, konnte sich Team Seven langsam vorarbeiten. „Wir kommen hier nie lebend raus“, sprach Jordan kopfschüttelnd. „Rede nicht so einen Blödsinn. Natürlich gelingt uns die Flucht“, wies Erin ihn scharf zurecht, obwohl sie sich nun nicht mehr so sicher war. Team Seven war verdammt nahe an ihnen dran. Doch sie ließ sich ihren Unmut nicht anmerken. Sie würde kämpfen – bis zum Schluß. Alleine, damit ihr Vater trotz allem, was in den letzten Tagen schiefgelaufen war, stolz auf sie sein konnte. Kurz verschaffte sich Erin einen Überblick über die Situation. Die Lage sah gar nicht gut für sie und ihre Leute aus. Das FBI konnten sie gut in Schach halten, aber Team Seven war verdammt hartnäckig. Um sie herum brannte es, und die Flammen züngelten vor sich hin. Über ihren Köpfen hinweg hagelte es einen wahren Kugelregen. Team Seven war fest entschlossen, sie zur Strecke zu bringen. Diese Männer waren nicht so leicht abzuschütteln wie ihre Vorgänger, das war Erin klar, seit sie Vin kannte. Und eine Unachtsamkeit sollte ihr weiteres Schicksal besiegeln. Sie paßte eine Sekunde nicht auf und schon war es Chris Larabee möglich, bis zum Wagen vorzudringen. Jordan wirbelte herum, doch da schlug Chris ihm die Waffe aus der Hand. Brutal schleuderte er ihn auf die Motorhaube und legte ihm Handschellen an. Und in diesem Augenblick wußte Erin, daß es vorbei war. Na gut, dann setzen wir eben alles auf eine Karte, dachte sie entschlossen. Erin setzte sich in Bewegung. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, da konnte sie auch den gefährlichen Sprung durch den Kugelhagel wagen. Doch es gab jemanden, der sie aufhielt. Erin fuhr herum und richtete ihre Waffe in dem Moment auf Vin, als dieser – fest entschlossen, seine Arbeit zu machen – ebenfalls seine Waffe auf sie richtete. Mit gezogenen Waffen und schweigend standen sie sich gegenüber. Die Kugeln flogen ihnen um die Ohren, schienen aber weit weg zu sein. Sie blickten sich in die Augen. „Tu deinen Job, Vin“, forderte Erin ihn auf. Er sah das Funkeln in ihren Augen. Sie wollte ihn provozieren; wollte, daß er nicht über sie beide nachdachte und endlich tat, was seine Pflicht war. Sie legte es darauf an, das sah er. „Du bist verhaftet“, sprach er schließlich mit ernster Stimme. „Dafür mußt du mich erst einmal entwaffnen und mir die Handschellen anlegen. Und freiwillig werde ich das nicht zulassen“, teilte sie ihm mit. „Mach‘ es mir nicht so schwer, Erin.“ „Tut mir leid, Vin, aber es muß sein. Wenn du willst, daß ich mich ergebe, hast du dich geschnitten. Das werde ich niemals tun“, sprach sie entschlossen. Chris hob den Kopf und beobachtete die Situation. War Vin wirklich dazu in der Lage? Konnte er das wirklich professionell hinter sich bringen? Chris zweifelte daran. In diesem Moment wurde er auf eine Bewegung hinter den beiden – die ungefähr einen Meter Abstand zwischen sich hatten – aufmerksam. Chris sah einen Mann, offensichtlich zählte er zu Erins Leuten, der auf Vin zielte. Mein Gott, nein, dachte Chris entsetzt. „Vin!“ rief er warnend über den Platz, während Chris nach seiner Waffe griff. In derselben Sekunde blickte Vin auf. Er hörte die Panik in Chris‘ Stimme. Was regte ihn so auf? Erin folgte seinem Blick und sah, wie Jack, einer ihrer treuesten Männer, seine Waffe auf den Agenten richtete und abdrückte. Sie wußte, jetzt mußte sie das tun, was sie tief in sich verspürte. Ihre Entscheidung fiel gegen ihre Freiheit und für Vins Leben aus. Mit einer einzigen Bewegung riß sie Vin herum und brachte ihren Körper zwischen die bedrohende Kugel und den Scharfschützen. Die Kugel traf sie mit voller Wucht in der linken Schulter. Entsetzt riß Vin die Augen auf als die Kugel sich in Erins Rücken bohrte. Ungläubig beobachtete Chris die Szene. Er konnte nicht glauben, was diese Frau getan hatte. Sie hatte soeben Vins Leben gerettet. In diesen Sekunden hatten Ezra und Josiah den Kerl auch schon überwältigt, der die Kugel abgefeuert hatte. Vin ließ seine Waffe fallen und fing Erin auf als sie gegen seine Brust fiel. Schwach sackte sie in seinen Armen zusammen. Er sank mit ihr auf den Boden. Schnell floß das Blut aus der Wunde. Vin sah, daß sie sehr viel Blut verlor. Mit halb geöffneten Augen blickte sie ihn schwach an. „Erin, warum ... warum hast du das getan?“ fragte Vin, und seine Stimme schäumte vor Sorge über. „Einmal ... einmal in meinen Leben muß ich doch ... etwas Gutes tun“, flüsterte sie. „Halte durch! Du wirst wieder gesund“, versprach Vin ihr und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Chris eilte an seine Seite. „Bist du okay?“ erkundigte er sich. „Ja, hol einen Krankenwagen.“ „Der ist schon unterwegs“, sprach Chris, und er verschaffte sich einen Überblick. Es war vorbei. Erins Leute waren geschlagen und verhaftet. Und Desmond Tiger lag verletzt in Vins Armen. Nathan stieß zu ihnen und versorgte sie, so gut wie ihm das möglich war. Fassungslos schüttelte Vin den Kopf. Er wußte, was ihr ihre Freiheit bedeutete. Doch die hatte sie geopfert, um sein Leben zu retten. Ihm wurde klar, daß sie ihn wirklich liebte. Dies war der Beweis dafür. Doch es stimmte ihn nicht fröhlich. „Sie wird wieder“, sprach Nathan beruhigend und sah auf, als der Krankenwagen eintraf. In diesem Augenblick wurde Vin klar, daß die Zeit von Desmond Tiger vorbei war. Nun gab es nur noch Erin Rosmond ... Einen Monat später Erins Verletzung war nicht so schlimm gewesen, wie zuerst befürchtet wurde. Sie trug zwar noch einen Verband und hatte bei einigen Bewegungen noch Schmerzen, aber die Schußverletzung hatte sich als nicht so dramatisch herausgestellt. Die Umstände, wie sie sich die jedoch zugezogen hatte, waren mehr als nur dramatisch. In der Zwischenzeit hatte sie das Gefängniskrankenhaus verlassen können, und man hatte sie in ein Frauengefängnis gebracht, wo sie bis zu ihrer Verhandlung in Haft bleiben würde. Nervös trommelte Vin mit den Fingern auf die Platte vor sich. Wenig später ging auf der anderen Seite des Raumes eine Tür auf, und ein Wärter brachte Erin herein. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln und setzte sich. Eine Glasscheibe trennte sie und verhinderte, daß es zum Körperkontakt zwischen Gefangenen und ihren Besuchern kam. Vin griff nach dem Telefonhörer, der auf seiner Seite befestigt war, und preßte ihn an sein Ohr. Erin tat das Gleiche. Nur über diese Verbindung konnten sie miteinander sprechen. „Du hättest nicht herkommen sollen, Vin“, sprach sie. „Ich weiß, aber als du im Krankenhaus lagst, hatte ich keine Möglichkeit, zu dir zu kommen. Wie geht es dir?“ fragte er besorgt. „Gut. Die Verletzung heilt. Es ist nicht so schlimm.“ Kurzes Schweigen entstand zwischen ihnen, und sie blickten sich nur an. „Ich danke dir“, sprach er dann. „Wofür?“ „Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet mit dem, was du getan hast. Aber ich verstehe nicht, warum du deine Freiheit aufgegeben hast. Erkläre es mir“, bat er. „Ich mußte mich entscheiden, und ich habe meine Entscheidung gefällt.“ „Das ist keine Antwort, Erin.“ Sie seufzte leise. „Ich tat es, weil ich das nicht zulassen konnte. Vielleicht war es eine Art Wiedergutmachung. Außerdem sagte ich dir, daß ich einmal in meinen Leben etwas Gutes tun muß.“ „Ich erinnere mich an deine Worte. Bereust du es?“ „Jetzt noch nicht. Wir werden sehen, wie das aussieht, wenn ich ein Leben lang hinter diesen Gittern verbringen muß“, sprach sie bitter. „Erin, ich bin stolz auf dich“, sagte Vin sanft. Überrascht blickte sie ihn an. „Wie komme ich zu dieser Ehre?“ „Ich weiß, wieviel dir deine Freiheit bedeutet und wieviel es dir bedeutet, nach den Worten deines Vaters zu leben. Du hast dich dem widersetzt, indem du mir das Leben gerettet hast. Ich weiß nicht, ob ich das in dir bewirkt habe, aber ... du hast sehr wohl einen guten Kern. Zwar ist er kaum sichtbar, aber ich weiß, daß er da ist“, sprach er mit einem leichten Lächeln. „Ja, du hast das bewirkt. Für niemand anderen hätte ich das getan. Tu mir einen Gefallen und komme nicht mehr her“, bat sie. „Wieso?“ „Weil es uns beiden nicht gut tut. Ich habe jetzt mein Leben hier drin, und du hast dein Leben da draußen. Es ist vorbei. Dein Team hat gewonnen.“ „Ich weiß, daß es vorbei ist, aber ... ich liebe dich. Und es wird lange dauern, bis ich verstehe, wie das alles kommen konnte. Wir hatten nicht viel Zeit.“ „Ich weiß“, erwiderte sie. „Wirst du mich vergessen?“ fragte Vin auf einmal. Ein sanftes Lächeln huschte über Erins Lippen. „Nein, dich kann man nicht vergessen. Du hast Desmond Tiger zu Fall gebracht, und das auf eine Art und Weise, auf die ich nicht vorbereitet war.“ „Wie meinst du das?“ „Es war nicht Gewalt oder Raffinesse, mit durch die ich zur Strecke gebracht wurde. Es war Liebe, die mein Ende bedeutet hat. Damit habe ich nicht gerechnet.“ „Bedauerst du es?“ hakte Vin nach. Verneinend schüttelte Erin den Kopf. „Nein, erst als ich dich traf, wurde mir bewußt, was mir in meinem Leben fehlt. Ich bin selbst schuld, daß es so gekommen ist. Ich habe zugelassen, daß du mir so nahe kommst. Es ist nicht deine Schuld, daß ich hier bin.“ „Mein Team hat dich hierher gebracht.“ „Nein, ich habe mich hierher gebracht. Ich habe als Desmond Tiger diese Dinge getan. Ich habe mich für dieses Leben entschieden. Du hattest recht.“ „Womit?“ fragte er überrascht. „Als wir uns in meiner Hütte getroffen haben, habe ich dir von meinem Leben erzählt. Du hast gesagt, ich hatte die Chance, ein anderes Leben zu führen. Ich habe das damals bestritten. Du hast Recht gehabt. Aber nun ist es zu spät. Jetzt verstehe ich auch meinen Vater. Weißt du, ich habe ihn angefleht, ihn aus dem Gefängnis holen zu dürfen. Doch er hat es abgelehnt. Ich verstand nicht warum. Jetzt, wo ich auch hier bin, verstehe ich meinen Vater immer mehr. Ich habe mich für dieses Leben entschieden. Jetzt muß ich die Konsequenzen tragen“, sprach Erin ruhig. „Wie geht es jetzt weiter?“ „Du lebst dein Leben weiter, genau wie ich. Paß auf dich auf, Vin, ja?“ „Natürlich. Erin, du hast meine Nummer. Wenn du etwas brauchst ... dann ...“ „Ich werde nicht anrufen“, sprach sie und schenkte ihm ein zärtliches Lächeln. Er seufzte leise. „Du hast recht. Es gibt keine Zukunft für uns. Es ist schwer, das zu akzeptieren.“ „Das schaffst du schon. Du solltest jetzt gehen“, forderte sie ihn sanft auf. Vin nickte. Sie hatte recht, aber zögerte, endgültig von ihr Abschied zu nehmen. „Ich liebe dich“, sprach er offen seine Gefühle aus. Instinktiv legte Vin eine Hand auf das Glas. Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. Wortlos legte auch Erin ihre Hand an das Glas, dort, wo seine Hand war. „Ich liebe dich“, teilte sie ihm mit. Einen langen Augenblick sahen sie sich noch schweigend an. Dann legte Vin den Hörer zurück auf die Gabel und erhob sich. Er ging zur Tür. Dort drehte er sich ein letztes Mal um. Er prägte sich Erins Erscheinung genau ein. Sie nickte leicht und forderte ihn stumm auf zu gehen. „Leb wohl, Liebling“, flüsterte Vin, dann öffnete er die Tür und war gegangen. Erin wurde zurück in ihre Zelle gebracht. Nun gingen sie beide ihren eigenen Weg. Das Phantom Desmond Tiger gab es nicht länger. Es war die Liebe eines Agenten gewesen, die Desmond Tiger letztendlich zum Verhängnis geworden war ...
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