Sektion 30-7 Sektion 30-7 hat beim Paradiesapfel-Award 2003 den ersten Platz in der Kategorie Magnificent Seven belegt - herzlichen Glückwunsch!
Autor: Birgitt Schuknecht (magnifica@gmx.net)
Field Agents Wilmington und Standish betraten die öffentlich nicht zugänglichen Räume der Sektion 30, beide mit dem obligatorischen Becher Starbuckskaffee ausgestattet. Ihr Boss, Larabee, sah in gespielter Verzweiflung gen Zimmerdecke. "Schön, daß ihr auch noch auftaucht. Nathan war drauf und dran, die Papiere für die Überstellung nach Sektion 40 zu unterschreiben." "Ihr Humor ist ungewöhnlich ausgeprägt in Anbetracht der frühen Stunde--" "Gib's auf, Ezra. Es ist weit nach neun, und ihr seid zu spät." Wilmington mischte sich ein, besorgt, daß er in Larabees und Standishs Dauerfehde hineingezogen würde. "Hey, Chris - wir? Ich bin nur ein unschuldiges Opfer. Kann ich wissen, daß Ezra mehr als eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee braucht, um in die Gänge zu kommen? Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich ihm nie angeboten, ihn heute morgen mitzunehmen." Jackson konterte sofort und nahm Wilmington den Kaffee aus der Hand. "Ja, ich kann sehen, wie er dich zu diesem Umweg gezwungen hat." Er nippte an der dampfenden Flüssigkeit. "Hat sich aber gelohnt. Viel besser als die Brühe, die Vin uns immer vorsetzt." Tanner grinste. "Mir schmeckt's. Keiner hindert euch, euren eigenen Kaffee zu kochen." Standish nahm einen großen Schluck, schloß die Augen für einen kurzen Moment. "Richtig. Nur die Tatsache, daß wir die Kanne zuerst von mehreren Kilo Kaffeesatz befreien müßten, macht die ganze Sache etwas aufwendig, Mr. Tanner. Außerdem glaube ich an die Vorteile der Arbeitsteilung und vertraue auf Experten." Er grüßte Tanner mit seinem Becher, der nur noch breiter grinste. "Wenn ihr endlich fertig seid, sollten wir anfangen. Sonst fällt unser Gast wirklich noch aus unserer Zuständigkeit", meldete sich Sanchez. "Den Vorbericht habe ich bereits gestern abend fertiggestellt. Es fehlt nur noch die abschließende Befragung." Wilmington lachte. "Und dafür braucht ihr die Kavallerie. Wo ist eigentlich JD?" "In Raum 101 natürlich. Er wollte noch einmal die Aufnahmegeräte überprüfen. Nach den Pannen der letzten Wochen können wir nicht vorsichtig genug sein." Larabee händigte Standish und Wilmington ihre Clipboards aus, auf denen die Unterlagen befestigt waren, die sie für die Befragung brauchten. "Hey, der ist doch noch Frischfleisch. Gerade eine Woche über dem relevanten Datum", stellte Wilmington fest, als er die persönlichen Daten überflog. "Du weißt doch, Buck, die einen erwischt's früher, die anderen später. Kann nicht jeder das Glück haben, ein Spätentwickler zu sein", bemerkte Jackson trocken. Die anderen lachten. Standish tippte auf das Deckblatt von Wilmingtons Unterlagen. "Sieh dir doch den Namen an. Die Familie ist bekannt für ihr sonderbares Verhalten. Mir ist da noch keiner untergekommen, der sich irgendwie normal entwickelt hat." "Shoemaker? Oh, nicht schon wieder! Kann das nicht einer von euch machen?" Larabee schüttelte den Kopf, ohne offensichtliches Bedauern. "Keine Chance, Buck, wir haben vorhin gelost, und ihr beiden habt leider verloren." "Ich gehe recht in der Annahme, daß es von dieser Auslosung keine audiovisuellen Aufnahmen gibt, Mr. Larabee?" Sanchez legte seinen Arm um Standishs Schultern. "Wenn du das nächste Mal pünktlich bist, kannst du gerne für entsprechende Beweise sorgen." "Mr. Wilmington, ich glaube, die angesagte Taktik ist, die Sache so schnell wie möglich hinter uns zu bringen." "Klar, Ezra. Und danach lädst du mich zum Mittagessen ein." "Auf dieses Zeichen eines Schuldeingeständnisses können Sie lange warten, Mr. Wilmington." Bevor die Diskussion eskalieren konnte, unterbrach Larabee die beiden. "Ihr habt zwei Minuten, um eure Hintern nach 101 zu bewegen. Andernfalls wird es in den nächsten Wochen überhaupt kein Losverfahren mehr geben, und alle besonderen Fälle landen direkt auf euren Schreibtischen." "Chris, das ist nicht fa--" "Mr. Wilmington, ich schlage vor, wir beugen uns den Entscheidungen unseres erlauchten Anführers, ohne weitere Zeit zu verlieren. Wenn Sie Ihr Augenmerk auf seine pochende Halsschlagader richten, werden Sie feststellen, daß--" "du in diesem Fall vollkommen recht hast. Wo ist unser Frischling?" "Schon drüben. Seit..." Larabee sah auf seine Uhr. "27 Minuten." "Hoffentlich lebt er noch. Ab einem gewissen Alter steigt die Gefahr stressbedingter Herzanfälle drastisch." "Sehr witzig, Mr. Jackson." In diesem Moment flackerten die Monitore, und die Lautsprecher krächzten. "Oh, ich sehe, Mr. Dunne hat seine Arbeit erfolgreich abgeschlossen." "Dann zeigt uns mal, was ihr so drauf habt." Tanner nahm seinen Stammplatz an dem großen Konferenztisch ein, machte es sich auf dem Stuhl so bequem wie möglich, ohne Sichtkontakt zum Monitor an der gegenüberliegenden Wand zu verlieren. Die restlichen Mitglieder von Sektion 30-7 folgten seinem Beispiel, außer Standish und Wilmington natürlich. Als sie die Tür öffneten, lief ihnen Dunne in die Arme. "Buck, Ezra. Da seid ihr endlich. Der Typ ist mit den Nerven fertig. Wenn ihr noch gescheite Antworten wollt, solltet ihr euch beeilen." "Komm, Ezra. Laß uns mal sehen, was wir aus diesem Ron Shoemaker so rauskriegen." Wilmington zog Standish am Arm hinter sich her, bevor Standish in der Lage war, sich seinen Rest Kaffee zu schnappen.
"Sie wissen, warum Sie hier sind?" Wilmington lächelte den großgewachsenen Mann an, der momentan allerdings versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Standish hielt sich zurück, hockte etwas abseits auf einem Stuhl und machte Notizen. Nicht daß es notwendig war, die Geräte um sie herum machten alle handschriftlichen Aufzeichnungen überflüssig. Aber es machte Eindruck auf die Befragten, wenn jemand im Hintergrund auf Papieren herumkritzelte. Selbst wenn es sich nur um Nikolaus-Häuser handelte, der entnervende Effekt war derselbe. Ron Shoemaker schüttelte den Kopf, er traute seiner Stimme kaum. Wie er allen seinen Sinnen nicht mehr traute, seitdem er vor zwei Tagen in dieses mysteriöse Gebäude gebracht worden war. In der einen Sekunde saß er noch mit seiner Freundin gemütlich bei einem Glas Wein zusammen, in der nächsten brachten ihn zwei Männer, die sich als Regierungsbeamte ausgewiesen hatten, hierher. Zu Sektion 30, wie man ihm knapp mitgeteilt hatte. Mehr wußte er nicht. Diese Leute hier wußten allerdings alles über ihn. Aber anscheinend wollten sie noch mehr erfahren... Wilmington schob das Glas Wasser näher, und Shoemaker griff danach, trank hastig, weniger um seinen beträchtlichen Durst zu löschen, als seine Hände zu beschäftigen. Er setzte das Glas mit einem Knall auf dem Tisch vor sich ab, zuckte bei dem Geräusch zusammen. "Hey, kein Grund, Angst zu haben!" Wilmington war klar, daß ihm ein ängstlicher Interviewpartner nicht viel nutzen würde. Shoemaker sah sprachlos zu Wilmington auf, offensichtlich irritiert durch den warmen Ton in der Stimme. "Eigentlich wollen wir Ihnen nur helfen. Sie sind vor einer Woche dreißig Jahre alt geworden?" "Was reitet ihr denn dauernd darauf rum? Das haben Ihre Kollegen mich schon ein Dutzend mal gefragt!" Shoemaker schrie es fast heraus. "Nur ruhig. Es ist die alles entscheidende Frage hier, und wir wollen doch keine Fehler machen. Beweise?" Shoemaker starrte ihn an. "Für was? Mein Alter? Ihr habt doch alle meine Papiere, Ausweise, alles. Da steht's doch drin!" "Mein Kollege drückt sich manchmal etwas unverständlich aus. Uns geht es nicht um irreführende Daten, Mr. Shoemaker", meldete sich Standish zu Wort. "Wir wissen, daß Sie vor einer Woche dreissig Jahre alt geworden sind. Doch was für uns wichtig ist, ist Ihre innere Einstellung . Sektion 30-7 wird erst dann aktiv, wenn Sie Ihr Alter und seine Bedeutung erkannt und für sich akzeptiert haben!" "Was?" Wilmington lachte. "Soviel zu deiner verständlichen Ausdrucksweise, Ezra." Er wandte sich Shoemaker zu. "Wir müssen feststellen, ob Ihnen klar ist, daß Sie die Schwelle drei-null überschritten haben." "Was?" Shoemaker sah verwirrt von Wilmington zu Standish, dann zurück. "Ich meine, was soll denn das? Natürlich ist mir das klar. Ich bin dreissig. Und?" Standish stand abrupt auf. "Verdammt, Mr. Wilmington, ich wußte es. Ein typischer Shoemaker." Er wandte sich zum nächsten Monitor. "Vielen Dank, Mr. Larabee." "Hey, was ist hier los? Ich verlange endlich Antworten." "Nicht, bevor Sie nicht begriffen haben, was Ihr Alter bedeutet." Wilmington übernahm wieder die Gesprächsführung, während sich Standish seufzend hinsetzte und begann, alle e-Schlaufen auf seinen Zetteln auszumalen. "Sie haben recht, ich begreife nichts." "Zusammen schaffen wir das, Mr. Shoemaker. Zunächst müssen wir feststellen, wie weit Ihre Akzeptanz schon gediehen ist. Auf der unbewußten Ebene. Ihr Unterbewußtsein und ihr Körper passen sich an, auch wenn Sie es gar nicht bemerken." Wilmington schnappte sich einen Stuhl und setzte sich rittlings drauf, stützte die Unterarme auf der Rückenlehne ab. "Fangen wir ganz einfach an. Wie haben Sie Ihren Geburtstag gefeiert?" "Ich eigentlich gar nicht. Ich bin eher gefeiert worden." Wilmington hab eine Augenbraue, und Shoemaker fügte schnell hinzu. "Überraschungsparty." "Und? Waren Sie überrascht?" Shoemaker grinste. "Natürlich nicht. Ich hätte taub und blind sein müssen, um nichts zu merken." "Taub und blind, soso. Und wie haben Sie auf die Überraschung reagiert?" "Überrascht natürlich. Was sollte ich denn tun? Die hätten mich gekillt, wenn ich es nicht gewesen wäre. Naja, und dann wollte ich meine Freundin nicht enttäuschen. Die hatte sich eine solche Mühe gegeben." "Und kommt Ihnen Ihr Verhalten nicht kindisch vor?" "Nein, wieso denn? War eine klasse Fete!" Wilmington sah in Standishs Richtung. "Ezra, hast du gehört?" "Natürlich, Mr. Wilmington." Standish antwortete ohne aufzusehen und fuhr fort, die 'e's auszumalen. "Machen Sie nur weiter. Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Der Name sagt doch schon alles. Mein Urteil steht fest." "Würden Sie aufhören, so zu tun, als wäre ich nicht hier?" rief Shoemaker. Sein Ärger war nahezu greifbar. "Da hören Sie es, Mr. Wilmington. Akuter Mangel an Selbstbeherrschung. Deutliches Anzeichen für innere Unausgeglichenheit. Dieser nicht mehr ganz so junge Mann hat noch nicht realisiert, was mit ihm geschieht." "Ezra, bitte, du machst ihn ganz nervös. Laß mich nach Vorschrift fragen, vielleicht ist ja noch Hoffnung. Du kannst dich auch mal irren." Standish sah auf und lachte. "Vielleicht wären Sie an einer kleinen Wette interessiert?" "Mr. Shoemaker, beachten Sie meinen Kollegen gar nicht. Lassen Sie uns lieber weitermachen. Vergessen wir erst einmal die Feier. Wir sollten nach kleinen Zeichen der Änderung Ausschau halten." "Kleine Zeichen der Änderung?" "Ja doch. Verhalten, körperliches Wohlbefinden, Interessen. Alles ist wichtig. Haben Sie sich irgendwie verändert oder anders gefühlt in den letzten Tagen? Ich bitte um absolute Offenheit und Ehrlichkeit, nur so kommen Sie hier raus." "Okay, ich spiele mit. Was wollen Sie wissen?" Wilmington legte den Kopf schief. "Alles? Fangen wir einfach an. Wie ist es mit Schlaf?" "Kein Problem." Wilmington seufzte. "Ich meine: irgendwelche Änderungen in Ihren Schlafgewohnheiten! Und ihre Freundin interessiert im Moment nicht. Zum Paarungsverhalten kommen wir noch." "Nur wenn es notwendig ist, Mr. Wilmington." "Ach Ezra, halt dich doch da raus. Ich führe hier das Interview." "Und es wird aufgezeichnet, Mr. Wilmington." "Also noch mal: Irgendwelche Änderungen in Ihren Schlafgewohnheiten?" Shoemaker hatte verwirrt die Diskussion der beiden Männer verfolgt und blickte jetzt etwas verlegen drein. "Wo Sie es so deutlich ansprechen... Ich habe das Gefühl, ich brauche mehr Schlaf. Ich bin mehrmals vor zwölf im Bett gewesen in der letzten Woche..." "Vor zwölf?" riefen beide Agenten gleichzeitig. Shoemakers Gesicht färbte sich leicht rot. "Einmal sogar um halb elf." Standish räusperte sich. "Nun, nur nicht aufregen, dieser Weg ist der richtige. Wenn Sie ehrlich mit uns sind, ist dies der erste Schritt zur Besserung Ihrer Situation." "Sie meinen, ich bleibe dann wieder länger wach?" Jetzt war es Wilmington, der sich räusperte. "Nun, davon können Sie sich wohl verabschieden. Immerhin sind Sie über dreissig, Mann." "Mr. Wilmington!" flötete es aus dem Hintergrund. "Tschuldigung! Also weiter im Text. Irgend etwas anderes, das Ihnen aufgefallen ist? Gehör?" "Was?" "Aha. Mach einen Haken bei nachlassenden Audio-Fähigkeiten, Ezra!" "Nein, ich habe Sie gut verstanden. Ich konnte nur nicht ganz folgen." Wilmington und Standish sahen sich vielsagend an. "Mangel an kontextuellem Verständnis!" sagte Standish triumphierend. "Jetzt halt mal. Ich bin schließlich nicht senil geworden in der letzten Woche. Ich bin lediglich--" "über dreißig!" intonierten Wilmington und Standish begeistert. Shoemaker seufzte ergeben. "Gut, wir machen weiter. Also, zurück zum Gehör. Ich höre wirklich etwas schlechter in letzter Zeit. Der Fernseher scheint nie laut genug zu sein." Er blickte die beiden Agenten verzweifelt an. "Aber die Nachbarn haben sich noch nie beschwert." "Wie weit wohnen die denn von Ihnen weg?" Wilmington grinste. "Schon gut, reden Sie weiter!" "Auf der anderen Seite habe ich mehrfach die Musik leiser gedreht", kam es kleinlaut von Shoemaker. "Ein sicheres Zeichen! Kiss Heavy Metal goodbye!" "Es würde mir leichter fallen, wenn Sie das nicht so genießen würden!" beschwerte sich Shoemaker. Das kümmerte Wilmington wenig. "Ist es zu laut, bist du zu alt! Dürfte ich fragen, welche Musik Sie im Moment bevorzugt hören?" Shoemaker knurrte die Antwort fast. "Nein, dürfen Sie nicht." "Lassen Sie mich raten. Robbie Williams, Shakira, Backstreet Boys, No Angels, Bro'Sis, Westlife, Marlon und Freunde, Ben, Jeanette--" "AUFHÖREN!" "Sasha, Grönemeyer, Scooter, Brooklyn Bounce... Oder gar Wolle Petri, Reinhard May, Helmut Lotti, Stefan Mross--" Shoemaker sprang vom Stuhl auf, so heftig, daß dieser nach hinten kippte. Er hielt sich die Ohren zu und rief immer wieder. "Nein, nein, nein!" Da erschallte eine Stimme aus einem der Lautsprecher. "Es ist gut, Jungs, ihr habt ihn geschafft. Den Rest können die vom Team Sechs machen. Wir haben unseren Job erledigt." Shoemaker blickte entgeistert um sich. "Es ist vorbei." "So gern wir dieses Spielchen noch weiter getrieben hätten... ja, wir sind hier fertig. Team Sechs wird noch eine Reihe Tests durchführen, dann können Sie nach Hause. Wir werden Ihnen offiziell bestätigen, daß Sie sich der Tatsache bewußt sind, die Schwelle drei-null überschritten zu haben." Standish nickte Wilmington zu, und der nahm den Faden auf. "Von jetzt an wird es Ihre Umwelt leichter mit Ihnen haben. Und Sie befinden sich in guter Gesellschaft. Ihre älteren Verwandten zum Beispiel geben ohne mit der Wimper zu zucken ihr wahres Alter an. Sie sehen, unsere Therapien schlagen sehr gut an." "Therapien?" "Von nun an werden wir von Sektion 30 für Sie da sein, in jeder altersbedingten Krise." Wilmington strahlte geradezu. "Bis an das Ende meiner Tage?" Standish schüttelte bedauernd den Kopf. "Das natürlich nicht. In der Sekunde, in der Sie vierzig werden, überstellen wir Sie pflichtschuldigst Sektion 40." Das Ende? - noch lange nicht!
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