Eine zweite Chance
Author: Shendara
"Verschwinde endlich!" Der lautstarke Ausbruch wurde von einem durch den Raum geschleuderten Sessel begleitet, der sein Ziel nur durch puren Zufall verfehlte. Keine Antwort, keine Gegenargumente, kein Wutausbruch seines Gegenübers. Stattdessen nur das Geräusch einer zufallenden Tür und Chris Larabee war alleine, genau, wie er es gewollt hatte. Einige Minuten lang starrte er teils ungläubig, teils misstrauisch auf die Tür, wartete darauf, dass Buck wieder zurückkam. So wie immer. Es war nicht das erste Mal gewesen - aber vielleicht das letzte Mal? Hatte er es endlich zu weit getrieben und den letzten Freund, den er noch hatte, in die Flucht geschlagen? Nein, nicht Buck. Er würde nicht einfach gehen. In ein paar Stunden würde Buck wiederkommen, spätestens morgen würde er wieder versuchen, Chris aus seiner Depression zu reißen und dabei genauso wenig Erfolg haben wie all die Monate zuvor.
Oder auch nicht. Zwei Wochen waren seit diesem letzten Streit vergangen und noch immer keine Spur von Buck. Sein Pferd war verschwunden, keine einzige der lokalen Huren redete von ihm - er musste weg sein. Trotz allem, der Flüche, der Verwünschungen - die Gewissheit, dass er es jetzt wirklich geschafft hatte, hinterließ ein Gefühl der Einsamkeit in Chris, das sich jedoch mit einigen Gläsern Whisky schnell ertränken ließ. Er brauchte keine Freunde, er brauchte niemanden, verdammt noch mal! Außer vielleicht die Bastarde, die seine Familie umgebracht hatten. Chris hatte sich in den vergangenen Monaten unbewusst einen Ruf als Revolverheld aufgebaut - etwas, das ihm lediglich ein leichtes Lächeln entlockte, als er das erste Mal davon hörte. Allerdings nur, bis der erste Vollidiot ihn herausforderte. Mit einer Waffe konnte er schon immer schnell und zielsicher umgehen, doch seine Geschicklichkeit war nichts außergewöhnliches. Dachte er zumindest. Jetzt, nachdem er einige Männer, auf der Suche nach einem Ruf, erschossen hatte und andere diese rächen wollten, betrachtete er diese Gabe als Fluch. Buck war der letzte seines - ohnehin relativ kleinen - Freundeskreises, der sich auch nach Sarahs und Adams Ermordung noch mit ihm, und seiner Depression, abgegeben hatte, eine Freundschaft, die sich bald in eine Zumutung verwandelte. Chris wollte den Kummer nicht loswerden, wollte seine Schuldgefühle nicht verarbeiten. Der Versuch, Buck die Schuld am Tod seiner Familie zu geben, hatte nicht funktioniert, kurz darauf ging Chris zu roher Gewalt über, um den Mann zu vertreiben. Buck hatte es ganze zwei Monate durchgehalten, bevor es ihm anscheinend zuviel geworden war. Gut, das hieß, dass er von jetzt an seine Ruhe hatte und ungestört an seinen Zukunftsplänen arbeiten konnte: Die Mörder seiner Familie finden, Ärger nicht länger aus dem Weg gehen und herausfinden, wie viel Alkohol ein Mann wirklich vertragen konnte, bevor er daran starb.
"Wie lange hast du nach diesem Motto gelebt?" "Zulange." Mit einer Hand schenkte Chris sich das nächste Glas Whisky ein, während die Zweite mit einem leeren Glas spielte. "Ich weiß es nicht mehr genau", gab er nach einigen Sekunden zu. "Mein Leben verwandelte sich in eine lose Aneinanderreihung von Streiterein, Schießerein, Alkohol und Tod." Er zuckte leicht mit den Schultern. "Leider nie mein eigener." "Ich bin froh darüber", erwiderte sein Gegenüber. "Ansonsten wäre ich vermutlich schon längst am Galgen gelandet." Ein rascher Blick, intensiv genug, um die meisten Männer den Kopf senken zu lassen, und Chris war sicher, dass Vin es ehrlich gemeint hatte. "Nein." Er schüttelte leicht den Kopf. "Es wäre jemand anders gekommen." "Und wer?" Mit einer schnellen Bewegung entwand Vin Chris sein Glas und griff gleichzeitig nach der, mittlerweile schon fast leeren, Flasche. "Oder wer sonst hätte Nathan geholfen? Oh nein", er schüttelte leicht den Kopf, als Chris das Wort "du" schon aussprechen wollte. "Ich alleine hätte das nie geschafft, und du weißt das auch." Er grinste leicht. "Stimmt, ich wäre vermutlich nicht am Galgen gelandet. Ich wäre vor einem Galgen erschossen worden." Ein amüsiertes Kopfschütteln war Chris' einzige Reaktion - was sollte er darauf schon groß sagen? Das Geräusch der zurückschwingenden Saloontüren und die schweren Schritte, die sich ihrem Tisch näherten, ersparten es ihm, eine Antwort geben zu müssen. "Ein wunderschöner Tag heute, findet ihr nicht auch?" Mit einem zufriedenen Seufzen ließ Buck sich in den Stuhl links neben Chris fallen. "Ich wüsste nicht, was daran so schön sein sollte." Mit einer Geste deutete Chris an, dass er den Rest des Whiskys haben konnte. "Aber", fuhr er fort. "Ich habe die Nacht auch nicht bei..." Er warf Buck einen fragenden Blick zu. "... Valerie", half Vin aus. "... verbracht", vollendete er den Satz. "Solltest du vielleicht. Die Gesellschaft einer Frau wirkt wahre Wunder auf eine gestresste Seele..." "Danke, ich verzichte lieber." Mit einem leisen Seufzen stieß Chris seinen Stuhl etwas zurück, es war Zeit für die alltägliche Patrouille. Nach der Ruhe der letzten Tage versprach die Ankunft einiger Cowboys ein wenig Unterhaltung - genau das, was Chris jetzt brauchte. "Kommst du, Vin?" Mit einem leichten Stirnrunzeln beobachtete Buck, wie die beiden Männer verschwanden. In früheren Zeiten wären sie beide es gewesen, die gemeinsam geritten wären. Früher, bevor ihrer beider Zukunft sich in einem Feuer zu Asche verwandelt hatte. Nachdem er Chris verlassen hatte, hatte Buck eine Weile versucht, sesshaft zu werden und sich eine Existenz aufzubauen, nur um festzustellen, dass er für diese Art von Leben nicht geeignet war. Stattdessen ging er wieder auf Wanderschaft, führte das Leben, das er vor Sarah und Adam mit Chris geführt hatte. Sheriff auf Zeit hier, Aushilfe da, einmal sogar Bodyguard für eine junge Dame, deren Vater Probleme mit einem Geschäftspartner hatte. Die Erinnerung entlockte ihm ein leichtes Lächeln, der Schutz wurde bald weitaus intimer, als der Vater es beabsichtigt hatte. An jenem Tag, als er aus Annies Bett direkt vor Chris Füße gefallen war, hatte er kurzzeitig die Hoffnung, dass alles wieder so wurde wie früher. Die Hoffnung starb in dem Moment, indem Vin Tanner knapp hinter Chris Stellung bezog und ein Blick zwischen den beiden klarmachte, dass Chris sich so sehr verändert hatte, dass er jemanden wie Tanner bedingungslos vertrauen konnte, während jemand wie Buck einfach nur ein guter Freund war. Gut genug, um ihm mit seinem Leben zu vertrauen, ja, aber nicht gut genug, um über alles zu reden. Oder nicht zu reden, dachte Buck, als er an die zeitweise wirklich nervtötende Angewohnheit der beiden, sich einfach nur anzuschweigen, dachte. Vielleicht war die Tatsache, dass Vin den alten Chris nicht gekannt hatte, der Hauptgrund dafür. Vielleicht lag es auch daran, dass Vins wortkarge, fast scheue Natur wesentlich besser zu diesem Chris passte. Egal was, schlussendlich lief es doch auf das Selbe hinaus - Vin Tanner hatte Buck Wilmington ersetzt. Und was hatte er getan? Sich dem Unabänderlichen gebeugt, akzeptiert, dass die alten Zeiten endgültig vorbei waren und die Freundschaft mit JD gesucht. Kein Ersatz für Chris, sondern - in gewisser Weise - etwas besseres. Er hatte Chris als besten Freund verloren, jedoch fünf andere dazugewonnen, denen er, nach einigen Startschwierigkeiten, bedingungslos vertrauen konnte. Obwohl er Ezra genauso wenig sein Geld anvertrauen würde, wie er es noch einmal versuchen würde, JD seine Heldenverehrung für Chris auszutreiben... Mit einem Grinsen trank er den letzten Schluck Whisky direkt aus der Flasche und machte sich dann auf die Suche nach Gesellschaft für die heutige Nacht. Ja, das Leben war wesentlich angenehmer und unterhaltsamer geworden, seit dem Tag, an dem Chris und Vin ihn aus Annies Bett gejagt hatten.
|| Fiction || |